Donnerstag, 20. Dezember 2012

DB-049 20 (Die Ehrlichstraße ein Stück rauf)

20

Die Ehrlichstraße ein Stück rauf, immer bedacht, den Platten in der Mitte des Gehsteigs zu folgen, um dann von der Liepnitzstraße aus den Seepark zu betreten, der gerade umgestaltet wird.

Gegen den Widerstand der Bevölkerung, besonders der Kinder, wie Beate vorhin in der Küche gesagt hat, während sie das von Götz für sie vorbereitete Frühstück eher lustlos hinuntergeschlang, um sich dann die Kleiderschürze umzubinden und systematisch die Küche zu putzen, den Kühlschrank, die Kästchen, die Küchentür, und das mit einer Genauigkeit, einer Inbrunst, die die Aussagen ihres Ehemanns Lügen straft.

Hinter den neuen Betonspielplätzen baut sich eine lange Mauer auf, die die Trautenauer Straße vor einer Möbelfabrik abgrenzt. Dort verläßt Stefan den Park, um quer durch die Siedlung Wuhlheide zu einem Wäldchen vorzudringen, das vor allem aus Birken und Fichten besteht.

Der dritte Akt hat sich verzögert, der Regisseur ist auf die Bühne getreten, um Kritik am Theater zu üben.

Stefan wehrt sich nicht, daß er nur atmen und gehen muß. Währenddessen Fragmente eines Streitgesprächs zwischen dem handelnden Helden und dem seinen Text ihm verschreibenden Regisseur.

Stefan muß die würzige Luft des letzten Tags dieses Jahrs bewußt ein- und ausatmen, angesichts der Tatsache, daß morgen - im neuen Jahr - bereits ein anderer Wind wehen wird. Und er muß diese Bäume betrachten, als wären sie die letzten Bäume seines Lebens: diese weißen Birkenstämme, ihr feines Geäst, und dazwischen die niedrigen, immergrünen Fichten, hinter denen plötzlich rechts vom Weg sich ein Zaun abhebt, ein umgittertes Areal, auf dem etwa zwanzig Militärfahrzeuge abgestellt sind, von einem Turm aus von Soldaten bewacht.

Beim geöffneten Tor stehen einige ihrer Kameraden herum, fünf oder sechs formieren sich zu einer Reihe und marschieren auf das Kommando des ersten über den Waldweg in Richtung Dunckerstraße, wobei sie an dem sie musternden Stefan vorbeimüssen: sehr junge Burschen mit asiatischen Gesichtern unter den zurückgeschobenen Helmen und hervorquellenden schwarzen Haaren, ihre Augen nur kurz und scheu in Richtung Stefan drehend.

Der Held kritisiert den Realismus des Autors: Daß er einen verantwortlichen Genossen in ein solches Licht setze, sei lebensfremd, unnatürlich. Der Regisseur verteidigt den Autor mit dem Hinweis, daß er mit Genehmigung des Amtes für Literatur ausnahmsweise einen negativen literarischen Typ vorführen wollte. Der Held kritisiert das Träumertum des Autors und setzt dagegen die genaue Berechnung von Aufwand, Mittel und Wirkung.

Stefan berechnet nichts, blitzartig stellt sich die Erinnerung an eine Erzählung seiner Mutter ein - der Regisseur lächelt, der Held tobt -: Beim Einmarsch der Russen ist Stefans älterer Bruder noch nicht einmal ein halbes Jahr alt gewesen. Die Mutter hat aus irgendeinem Grund einen Kochlöffel in der Hand, als die Küchentür aufgeht und ein russischer Soldat hereinstürzt, sie einen Augenblick wütend mißt, zu ihr tritt, ihr den Kochlöffel aus der Hand reißt und ihn an seinem Knie in kleine Stücke zerbricht.

Danach das freundliche Palaver des Soldaten mit dem Baby im Kinderwagen. Es ist gelegen, hat sich die Mutter erinnert, und der Soldat hat gefragt: Sitzt nicht?, und Stefans Mutter hat den Kopf geschüttelt, aber der Soldat hat Stefans Bruder einen Polster hinter Kopf und Rücken gestopft, in die Hände geklatscht und immer wieder stolz auf seine Wundertat hingewiesen: Sitzt, Frau, schau, sitzt!

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-07 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Mittwoch, 19. Dezember 2012

DB-048 (19) (Natürlich brennst du drauf)

Natürlich brennst du drauf, daß ich das Oskar-Thema weiterführe. Du hast mir diese selbstverordnete Therapiereise nicht ausgeredet, hättest ja keinen Grund dazu gehabt. Du hast sie aber auch nicht ausdrücklich befürwortet, wie immer als abgefeimte Strategin auf dem Terrain deiner Ambivalenz.

Du läßt mich kommen, das ist dein Allerweltsspruch, der alles erklären soll. Sie läßt mich kommen, denke ich voller Wut, aber ich komme nie. Gerade zufleiß. Denn obwohl ich da bin, bin ich auch abwesend. In einen Ekel vor meiner Anwesenheit versunken, ist meine Bereitschaft zu irgendeinem Bekenntnis auf den Nullpunkt gefallen.

Ich bin mitten in einer Depression, sehe in Götz den unmittelbaren Auslöser, entdecke dann aber in mir als Mitursache meine Unzufriedenheit mit dem Verlauf der Begegnungen mit Oskar.

Aber was soll sich denn entscheiden? Es müßte doch genügen, Oskar wieder gesehen zu haben. Einige Augenblicke des Wieder-Erkennens, des Aufleuchtens eines vergessenen Vertrauens. Es muß doch nicht alles zu einem unauslöschlichen Höhepunkt hinführen, noch dazu, wo es sich bei ihm um einen alten Mann handelt, realistisch betrachtet. Um einen Mann, der sich dem Alter nähert, in dem er sich immer schwerer öffnen kann.

Vielleicht ist er schon so verschlossen, daß er nur mehr an einem Spiel mit seinen Erinnerungen interessiert ist, daß es ihn peinlich berühren würde, wenn eine dieser Erinnerungsfiguren real, mit realen Forderungen, jetzt vor ihn hintreten würde. Warum soll ich also in ihn eindringen? Womit auch? Womit soll ich ihn aufscheuchen aus der beruhigenden Gefühlsgewöhnlichkeit?

Du sagst immer, auch ich hätte mich geändert. Genf ist schon lang kein magnetischer Lebensstützpunkt mehr. Seit ich das Unterrichten aufgegeben habe, bin ich genug in der Welt herumgekommen. Überall bin ich auf mehr oder minder vertrauenerweckende Überlebende gestoßen, ernstzunehmende Vaterpersonen, die allerdings Oskar sein Erstlingsrecht nicht streitig machen konnten.

Überall hat es diese grausamen Brüche, Abschiede und Fluchten gegeben. Überall bin ich auf diese unverständliche Selbstzerstörungswut gestoßen, die jetzt wieder in mir rumort.

Obwohl sich der Waggon geleert hat, wird es mir zu eng. Grünau, ich beschließe auszusteigen. Ich versuche, möglichst schnell aus dem bewohnten Gebiet hinauszukommen. An schmucken, teilweise im Umbau begriffenen Ein- und Mehrfamilienhäusern vorbei, an einer gepflegten neuapostolischen Kirche, einem Feld, auf dem inmitten der Reste von Schneemännern ein Wagen steht mit Gummirädern und einem mit Grün, Gelb, Blau und Rot bemalten Türchen versehenen Aufbau, der ein Bienenstock sein könnte, gerate ich auf einen Weg, der direkt in einen mit Föhren durchwachsenen Birkenwald führt.

Weil ich mich unbeobachtet fühle, beginne ich zu laufen. Ich will mich ermüden.
Kurz vor den S-Bahn-Geleisen stoße ich auf drei Buben, die Knallkörper werfen. Als sie mich erblicken, legen sie etwas auf die Schienen. Um ihnen auszuweichen, gehe ich eine Weile den Bahnkörper entlang und überquere ihn, nachdem eine S-Bahn in Richtung Stadt vorbeigerauscht ist.

Danach fällt mir ein, daß mich Oskar vor der dritten, etwa in Kniehöhe angebrachten Schiene, die stromführend ist, manchmal sogar unverhüllt, schon mehrmals gewarnt hat. Das habe ich nicht beachtet.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-06 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Dienstag, 18. Dezember 2012

DB-047 (19) (Etwas in mir denkt)

Etwas in mir denkt, daß in einem bestimmten Augenblick der Vergangenheit ein gefährlicher Schatten aufgetaucht sein muß, der jetzt, wäre er nicht wieder gewichen, so etwas wie ein Bub im Alter Saschas sein könnte. Dieser flüchtige Schmerz verschließt mir die Augen, sodaß ich gar nicht mitkriegen wie sich die Kinder einigen.

Da es draußen ruhig geworden ist, ziehe ich mich schnell an. Aus der Wechselrede der Buben erfahre ich, daß ihnen als Weihnachtsbaum auf Rügen eine skurrile Baumwurzel aus dem Meer gedient hat, daß Professor Sascha Lang ein Rennauto, zwei Matchbox-Autos, einen Gürtel, Handschuhe und ein Lottospiel, Doktor Boris Lang dagegen ein 500er-Puzzle, ebenfalls Autos und Handschuhe und einiges zum Anziehen bekommen hat (du siehst, wie gut mein Gedächtnis - bei Nebensächlichkeiten funktioniert); dazu (wie alle) einen Bunten Teller mit Marzipanbrot und einem Schokoladeweihnachtsmann; und Götz ein Exquisit-Hemd und Beate eine extra von Boris gedichtete wahre Gruselgeschichte.

Bevor diese in voller Länge über mich hereinbrechen kann, verdrücke ich mich, werde aber von Stefan beim Öffnen der Eingangstür ertappt. Er will mich zuerst zurückhalten, entschließt sich dann aber, mich ein Stück zu begleiten.

Sofort will er eine Erklärung für mein Weggehen, und als er die nicht kriegt, versucht er es mit einer Ablenkung. Wir sind inzwischen beim Leimkohl-Haus in der Rankwitzstraße angekommen. Der Leimkohl, sagt Stefan, auf das Haus vor uns weisend, das eine Leuchttafel über der Tür trägt, in der oben halbbogenförmig das Wort LEIMKOHL, darunter STAUBSAUGER zu entziffern ist, der Leimkohl sei laut Götz eine Art Wilhelm Tell von Karlshorst gewesen. Immer im Kampf gegen die Obrigkeit im Dienste des Restes von Privatwirtschaft. Das in der Art der Anzeigen aus den zwanziger Jahren stilisierte Frauenporträt auf der Hauswand soll die Gattin Leimkohls darstellen, die ihm vor Jahren, schon nicht mehr die Jüngste, mit einem amerikanischen Millionär durchgegangen sein soll.

Im Ziergarten vorm Haus ein Standbild zu Lebzeiten: Herr Leimkohl persönlich, vermutet Stefan, von der Witterung und dem Kohlenruß geschwärzt, mindestens ein Drittel unter der natürlichen Größe. Leimkohl soll dann, nachdem er die Lust zu weiteren Erfindungen, die wohl die Meßlehre in der Hand und das Frauenfigürchen überm Ohr symbolisieren soll, verloren hatte, unentwegt mit einem Staubsauger auf der Kühlerhaube seines Autos durch die Lande gekurvt sein. Es soll ihm aber vor nicht allzu langer Zeit die Erlaubnis, Staubsauger zu reparieren, entzogen worden sein, wegen angeblicher Steuerhinterziehung und anderer Ungesetzlichkeiten.

Ja und? Stefan ist so vernünftig und kehrt um, nachdem er merken muß, daß meine Laune sich nicht geändert hat.

In der S-Bahn geht es mir schlecht. Ich mag die Leute, die sich so drängen, aus der Stadt hinausbefördert zu werden, überhaupt nicht. Ich mag sie nicht ansehen müssen. Ich mag sie nicht riechen müssen. Die Vorstellung, daß jemand an mir anstreift, macht mir Angst. So lasse ich mich vermummt, ein Bündel unauffälliger, weggeschlossener Eigenschaften, von einer mir unbekannten Station zur andern befördern, blicke ohne eigentliches Interesse hinaus, nehme nur Schemen wahr und halte mich im Stadium künstlicher Schläfrigkeit.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-05 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Montag, 17. Dezember 2012

DB-046 19 (Du wunderst dich sicher)

19

Du wunderst dich sicher: Ich bin einfach in die nächstbeste S-Bahn gestiegen, nachdem ich mich aus dem Staub gemacht habe, eine Vorsichtsmaßnahme, damit dieser Silvester nicht in Unfrieden beginnen muß. Denn aufgewacht bin ich mit dem Nachgeschmack der unverschämten Vernichtung Oskars durch Götz im Herzen, was mich verbittert.

Es nützt nichts, wenn ich mir sage, daß es nicht um Götz, sondern um Oskar geht. Daß ich Götz nicht ernst nehmen darf, daß seine Gegnerschaft zwar verständlich, aber trotzdem unverzeihlich ist. Ich müßte mich beherrschen, wir sind hier Gäste. Ich dürfte Stefan nicht in meine Gefühlsfallen hineinziehen. Aber ich maßregle mich, ohne daß mich das dämpft. Ich fühle mich eingesperrt mit einer Luft, die nicht zu atmen ist, ausgeliefert meinem klebrigen Schweiß, der nicht zu stoppen ist.

Weil ich aus der Küche die Stimmen der Männer höre, verstecke ich mich unter der Tuchent und stelle mir vor, daß ich Götz, falls er auf die Wahnsinnsidee verfallen sollte, mich um Verzeihung zu bitten, nichts antworten würde. Selbst wenn er gekrochen käme, könnte ich ihn nicht eines Blickes würdigen. Aber all das traue ich ihm sowieso nicht zu. Er würde mich höchstens mit seinem unheimlichen Großmut, seiner schier unausschöpfbaren Stärke auf seine Seite ziehen und meine Parteilichkeit zermürben wollen.

Auf einmal bemerke ich, daß die beiden Buben im Raum sind. Sie wollen Stefans Kassettenrecorder und finden ihn auf dem Tisch Beates. Obwohl ich mich zeige, läßt Sascha sich von meiner Anwesenheit nicht beirren und bringt seinen Bruder dazu, daß er ihn interviewt, wobei er währenddessen seine Hand nicht vom Gerät nimmt, damit Boris es ihm nicht entreißen kann.

Wie er sich fühle. Gut, strahlt Sascha ins Mikrophon, wenn ich nicht krank bin. Nicht gut fühle er sich, wenn er traurig sei. Und traurig sei er, wenn er zum Beispiel aufgrund einer Strafe von Götz zu früh ins Bett geschickt werde. Dann lese er bis halb acht oder acht eine spannende Geschichte, und die Trauer sei weg. Und wenn er von Götz eine geknallt kriege, weine er nicht, weil er traurig sei, sondern aus Wut. Richtig traurig wäre er nur, wenn sein Opa sterben würde, Oskar-Opa. Aber der sterbe nur einmal, weshalb er eigentlich nur einmal im Leben richtig traurig sein werde.

Boris lacht betroffen, worauf sein Bruder grinst, was Boris animiert, am Gerät zu zerren, damit jetzt endlich er als der großartige Götz-Imitator, -Nachfolger und -Übertreffer zum Zug kommt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-04 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Samstag, 15. Dezember 2012

F-26 ZEHN JAHRE DANACH

Aus der Entfernung hin
zu dir,
näher und näher
mit jeder Sekunde:
Dafür
hab ich bezahlt.
Aus deiner Hand
wächst mein Schwanz,
wo ich auch bin.
Wenn das Licht
angeht,
leckst du
meinen Schweiß,
Angstfilm meiner Jugend.
(Sex
ist besser als
Liebe, doch
beides will ich
ohne Trennung.)
Die Öffnungen,
stell ich mir vor,
zwischen uns
sind austauschbar.
Trotzdem -
das Fluktuieren
der Identitäten
funktioniert nicht mehr.
Vorwärts gerichtet
stehn wir
auf verschiedenen
Böden: dein Vater
beißt anders
als meiner;
meine Mutter
lebt als stabile
Größe in mir,
langsam
nähert sich deine,
dich wärmend.
Schwierig ists,
Vertrauen gegen
Kontrolle zu tauschen:
Manchmal
öffne ich meinen Mund,
und du siehst
nur tote Wörter.
Stell dir vor,
wir halten einander
noch zehn Jahre
über Wasser,
blicken einander
danach mitten ins Herz,
noch voller Neugier,
ohne Scham.

(1980)


(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

(Blick zum Nachbarn: B-03 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Donnerstag, 13. Dezember 2012

F-25 KURZBIOGRAFIE

für Susanne

Empfangen und aus-
getragen im Namen der Resistance,
zur Welt gekommen in einem Hotel,
durchgefüttert zur Tarnung
in faschistisch geführten Kinderheimen,
nur französisch sprechend wie die als einheimisch
geltende Mutter, zu der, ein völlig Fremder,
der Vater manchmal einsteigt, nachts,
bald wieder flüchtet, beim Morgengrauen
schon unterwegs mit schnell wechselnder
Identität in Sachen Wehrkraftzersetzung.

Und dann, nach dem Krieg, nach der Ankunft
in Wien, hat sie scheinbar das alles
mühelos vergessen, wächst auf
wie ihre Mitschülerinnen in Kaisermühlen,
im akademischen Gymnasium, in völliger
Unwissenheit, assimiliert
von den Ängsten der Eltern. Erst mit dreizehn,
im Jahr 1955, als die letzten Befreier
das Land verlassen, an einem kahlen
Herbsttag der Gang mit dem Vater
über die Reichsbrücke: seine vorsichtigen
Hinweise, Fotos aus dem Gelben Stern,
Fragmente der viel zu nahen
Vergangenheit, die unfaßliche Bilanz:
Großonkel und Großtante väterlicherseits
vergast in Auschwitz,
zwei Onkel väterlicherseits
vergast in Auschwitz,
die acht Brüder des Großvaters mütterlicherseits
vergast in Auschwitz,
deren Frauen, Kinder und Enkelkinder
vergast in Auschwitz.

Die Antwort der beinahe Nachgeborenen:
verschwommener Stolz
auf den verschwiegenen Makel
des Andersseins, Schwärmen
vom sogenannten Land der Verheißung.
Immer schwerer wird ihr die Last
des Vaterlebens auf den Schultern, immer
durchdringender die Verfolgung
durch sein Verfolgtsein:
Rassengesetze Emigration plombierter
Zug Lager Razzien Gestapo Flucht;
seine lebensrettende Arbeit
in der Illegalität, seine ständig
todbedrohte Existenz: das hat sie ihm jetzt
abnehmen müssen, damit er endlich
ein anderer wird - ohne
Mohn und Gedächtnis.

Schließlich, nach der Matura,
entkommt sie zu den Verwandten in Paris,
London, New York, reist ruhelos
von einem zum andern, den überlebenden
Vaterbrüdern, die sie verzweifelt
liebt: Rettung vorm so oft verschobenen
Selbstmord, den ihr barmherzig
Jean Améry auf immer abnimmt.

Doch erst nach zwanzig Jahren
die Rückkehr, die teure Analyse,
die aufkeimende Selbstbehauptung,
die Entdeckung der weiblichen Stärke:
ihre vorsichtige Freude
beim Gedanken an ein eigenes Kind,
skrupellos empfangen und aus-
getragen im Namen der neuen
Zuversicht des noch lebenden Vaters.

(1980)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

(Blick zum Nachbarn: B-02 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Im November erschienen

E. A. Richter
Schreibzimmer

100 Gedichte

Originalausgabe
160 Seiten, Hardcover, fadengeheftet, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-902113-94-8 € 20,00

https://www.korrespondenzen.at/Richter03.html

https://www.amazon.de/Schreibzimmer-E-A-Richter/dp/3902113944
https://www.buch24.de/shopdirekt.cgi?id=12307234&p=3&t=&h=&sid=1

(Blick zum Nachbarn: B-01 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Dienstag, 11. Dezember 2012

DB-045 (18) (Stefans Drecksepisode)

Stefans Dreckepisode anerkennt Götz als Exempel dafür, daß man manche Menschen vor sich selbst beschützen müsse. Damit schafft er den Sprung zu Beate. Die wolle nämlich geführt werden, ohne daß sie es merkt. Was er eigentlich gar nicht gern tue. Aber es sei nun einmal so, und das sei die eigentliche Schuld des Alten: daß er seine Tochter süchtig nach heimlicher Führung gemacht habe. Er brauche nur einen Satz zu sagen, und schon brächen die alten Wunden wieder auf.

Es genüge, wenn das Gespräch auf die Wirtschaft komme, auf die kleinen Fehler im Mechanismus, die sich zu großen Fehlern ausgewachsen hätten. Wir sind direkt der Hauptverwaltung für Kompromißwirtschaft und Koordinierung des Mangels unterstellt, sagt Götz und haut auf den Tisch. Eine alte Diskussion, die zu nichts führt. Aber ihm, dem Fremden, dem aus einer ganz andern Welt, müsse er ja einen kleinen Einblick in die einheimischen Freuden des Lebens geben.

Brauche ich einen Vorschalldämpfer, zum Beispiel, schreit Götz, wird die gesamte Familie um einen Vorschalldämpfer geschickt. Kriege ich einen, kaufe oder tausche ich nicht einen, sondern zehn. Damit bin ich einerseits verantwortlich für den Mangel an Vorschalldämpfern in dem Bereich, wo ich sie mir beschafft habe; zugleich habe ich aber auch ein Faustpfand in der Hand für den Fall eines weiteren Mangels. Braucht nämlich ein anderer einen Vorschalldämpfer, und er hat Kohlen, dann kriege ich eben die Kohlen, die ich ohne Vorschalldämpfer nie kriegen würde.

In diesem Land muß man pfiffig sein, um sich mit den Dingen des täglichen - vor allem aber des nichtalltäglichen - Gebrauchs zu versorgen. Du gehst nicht einfach ins Geschäft und sagst, du willst einen Vorschalldämpfer. Und du gibst auch dem Verkäufer nicht sofort Geld, damit er vom Ernst der Lage überzeugt ist.

Zuerst einmal mußt du in bestimmten Abständen erscheinen und dein Interesse an Vorschalldämpfern bekunden. Damit bist du ihm als Gesicht bekannt, das er ohne Angst, daß du von der Arbeiter- und Bauernkontrolle bist, mit Vorschalldämpfern in Verbindung bringen kann.

Endlich bist du als echt Suchender eingestuft. Jetzt läßt sich der Verkäufer auch bereitwillig bestechen. Er nennt dir einen Termin, zu dem eine Lieferung Vorschalldämpfer zu erwarten ist. Und wenn dann dieses Datum da ist, gehst du mit der ganzen Familie hin und deckst dich mit Vorschalldämpfern ein, obwohl du eigentlich nur einen brauchst.

Damit ist die Entstehung unserer Vorratswirtschaft erklärt. Götz blickt Stefan selbstbewußt an. Denn gleichzeitig hat er alle Gläser und Teller gereinigt und das Besteck geputzt.

Wenn ich richtig verstehe, sagt Stefan listig, ginge es vor allem um eine Koordinierung des Mangels mit dem Vorrat. Götz nickt, zufrieden mit dem Ergebnis seiner kleinen Einführung in die hiesigen Probleme der Ökonomie.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Montag, 10. Dezember 2012

DB-044 (18) (Geräusche aus der Wohnung)

Geräusche aus der Wohnung holen Stefan unter die noch immer kalte Tuchent zurück. Er beschließt, Bewegung zu machen, Teewasser aufzustellen.

In der Küche rumort bereits Götz, vollständig angezogen und gut gelaunt. Seine hellblauen Augenschlitze könnten töten, fürchtet Stefan, würden sie all ihre morgendliche Energie auf einen Punkt konzentrieren.

Erst jetzt bemerkt er in dessen rechtem Auge einen deutlichen Blutfleck. Zugleich erkennt er in seinem rauhen Pullover, seiner einfachen, blauen Arbeiterhose das Absichtslos-Absichtliche: Mit dem ersten wachen Atemzug gesellt er sich jeden Tag zu den unzähligen Familienerhaltern, auf denen die ganze Verantwortung lastet.

Das begründet Götz gleich mit einer Kurzcharakteristik Beates, um dann wohlwollend festzustellen, sie habe sich schon deutlich gebessert, obwohl sie noch einiges lernen müsse.

Denn auch im Sozialismus seien Kochen, Putzen, Waschen und die Erziehung der Kinder die Domäne der Frau; aber davon habe sie noch immer keinen blassen Tau, müsse von ihm heruntergeholt werden aus ihrem Wissenschaftskuckucksheim - jedesmal wenn ihm die Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt zu viel werde.

Stefan empfindet diese Einleitung als falsche Anbiederung und stellt fürs erste klar, daß er natürlich keineswegs so perfekt sei wie Götz: Typisch männlich sozialisiert, übersehe er jeden Dreck. Wie er das, forciert vom Sauberkeitsfanatismus seines Vaters, seit seiner Jugend gewohnt sei, habe er jahrelang geübt, sich auf seine innere Bühne zurückzuziehen, mit dem Vater als Krokodil und der Mutter als Kasperl - oder umgekehrt -, um den Dreck, die Unordnung nicht sehen zu müssen, die Ablagerungen der Seele, die nicht so einfach vom Tisch zu wischen seien.

Gebannt und laut atmend habe er zugesehen bei diesem unerquicklichen Drama, wie sich äußerer und innerer Dreck immer mehr verquickt hätten, äußere und innere Unordnung, wie daraus die heftigst abgewehrte Schuld gewachsen sei, wie er dann aus der Schuld geflüchtet sei - mit seinen mahnenden Eltern in sich - von einem Ort zum andern, immer ein Kuddelmuddel aus Dreck, Chaos und Unglück hinter sich herziehend.

Schließlich habe ich in einem ehemaligen Pferdestall gelebt, sagt Stefan, neben einem Studentinnenheim, unter der mehr oder minder strengen Aufsicht einer alten Hofrätin, die vorn im ersten Stock ihr Vergangenheitsmuseum eingerichtet gehabt hat, das ich nie betreten durfte.

Einmal im Monat, wenn ich nicht dagewesen bin, hat sie sich unter dem Vorwand, dort aufzuräumen, in dieses feuchte, dunkle Loch gewagt, überall herumgestierlt und immer etwas vorzeigen können, was gegen mich gesprochen hat: ein Reindl voller verschimmelter Nudeln, mit wochenalten Essensresten beklebtes Geschirr und Besteck, ein Knäuel Schmutzwäsche, unterm Bett hervorgeholt.

Ich habe dann immer eine Nachricht vorgefunden, wo mir meine Sünden minutiös aufgezählt worden sind. Danach bin ich jedesmal zur Vermieterin hinaufgepilgert, habe geklopft und ihr, nachdem sie die Tür nur einen Spalt aufgemacht hat, auf der Schwelle die endgültige Besserung versprochen. Aber die hat dann schließlich darin bestanden, daß ich nichts mehr gekocht und den Gasrechaud, der einmal beinahe explodiert wäre, einer meiner Freundinnen von nebenan geschenkt habe.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Sonntag, 9. Dezember 2012

DB-043 18 (Eingegraben in der Finsternis des Bettes)

18

Eingegraben in der Finsternis des Bettes neben der unruhig schlafenden Lena, fällt es Stefan schwer, sich seine Verliebtheit auszutreiben mit vernünftigen Sätzen. Es ist, als leuchte ihm jemand mit einer winzigen Taschenlampe ins Auge, sodaß er gezwungen ist, immer dieselben Gedanken, Ängste und Wünsche zu haben.

Zuerst die so oft überschlafene Zärtlichkeitslust, das so oft im Kopf vorweggenommene Wühlen in den bekannten Körperhöhlen. Und jetzt dieses Schwanken zwischen alltäglicher Hoffnung und singulärer Hoffnungslosigkeit, zwischen Sinnlichkeit in kleinen Schritten und der amoralischen Apotheose einer unsinnigen Leidenschaft.

Stefan zieht seine kalten Füße an den Körper: Schwitzbad. Er setzt Julia und sich wieder ins Schwitzbad, betrachtet es als eine Art Vorausdeutung des Kommenden. Dabei kann es aber nur um die Vergegenwärtigung des Vergangenen gehen.

Seine alte Krankheit: Kaum hat er sich von den Menschen entfernt, beginnt er wie wild an ihnen zu arbeiten, sie zurechtzumodeln, sie einem Idealbild anzupassen.

Die Julia, die jetzt anstelle Lenas neben ihm liegt, ist eine synthetische Julia, die Lena in allem übertrifft. Er könnte sie zu einer Frau voller Schwächen, voller Laster machen: Sie bliebe trotzdem unweigerlich Gegenstand seiner Liebessehnsucht; er muß, stellt er fest, seinen Mut am Imaginären kühlen, das sekundenschnell unter der Oberfläche aufschimmert; er muß das Unmögliche glauben.

So wird er die Zeit zwingen, stillzustehen oder dahinzurasen, in beliebiger Richtung, mit beliebiger Geschwindigkeit. So wird er aus den Tagen steigen können wie aus einem Auto oder Omnibus. So wird er die Glückssekunde anhalten können, die schleichenden, öden, kümmerlichen Jahre zum Wirbelwind machen, der alles mitreißt.

Die Sonne wird durchbrechen, Schluß machen mit seiner schläfrigen Gleichgültigkeit. Endlich erscheint er als Zeitmaterialist, Zeitsurrealist, Zeitmechaniker, der die neuesten Errungenschaften jedem bekannt macht. Er besitzt das Telefon, mit dem er ohne Schwierigkeiten vom WEISSEN ZIMMER aus alle erreichen, mit allen sprechen kann.

IM WEISSEN ZIMMER selbst sprechen die Dinge: diese Wasseroberfläche, auf die unentwegt Regen fällt; diese glitzernden, kichernden Kugelflaschenköpfe, die, ohne Angst zu machen, ständig klingeln, während Stefan am Rand der Röhre zum Abgrund hockt, im Rucksack eine Bombe, die dieses WEISSE ZIMMER, diese komprimierte Sekunde des Glücks aller jetzt noch Schlafenden vernichten könnte.

Einen Augenblick glaubt er, daß er alles in die Luft sprengen müßte, um die Menschheit vorm Ende der Zeit, dem gesammelten Glück, zu bewahren. Dann erkennt er, daß er kein geborener Attentäter ist, und läßt die Bombe versinken.

Diese bemoosten Mauern, zerrissenen Tapeten. Diese dachlosen Pfeiler, wasserüberspülten, zersprungenen Kacheln. Diese leeren Fenster, vor denen sich die wüste Landschaft im süßesten Grün nur so lange ausbreitet, solange man sie nicht ins Auge faßt.

Davor bewahrt ihn das WEISSE TELEFON, mit dem er die Verbindung zwischen der schlafenden Julia - ob sie noch keucht unter der Last ihres Ludwig? - und der schlafenden Lena mit einem Knopfdruck herstellen kann.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Samstag, 8. Dezember 2012

DB-042 (17) (Du kannst dir vorstellen)

Du kannst dir vorstellen, daß mich diese Charakteristik meines Onkels zunehmend aufgewühlt hat. Sie erscheint mir ungeheuerlich angesichts der Tatsache, daß Oskar als jugendlicher unter Einsatz seines Lebens gegen das Hitler-Regime gekämpft hat. Andererseits hatte ich nicht den Mut, diesen bedingungslosen Angriff zu unterbrechen, Götz den anderen Oskar, den er ja auch kennen muß, entgegenzuhalten, ihn zum Argumentieren zu zwingen. Ich rede mich auf die Höflichkeit des Gastes aus.

Da ist Götz schon wieder zurück, spricht mich an, in der Hand das Buch, das seine Aussagen belegen soll, darin so lange blätternd, bis er eine passende Beweisstelle gefunden hat: Die Leute warfen die Beine, daß die Stiefelspitzen über die Nasenspitzen hinauszuschwingen schienen, und es war ein einziger Schwung, wie ein einziges Bein, und es war die Haltung all dieser Körper, nein: dieses einen Körpers eine so krampfhafte Anspannung, daß die Bewegung zu erstarren schien, wie die Gesichter schon erstarrt waren, daß die ganze Truppe ebensosehr den Eindruck der Leblosigkeit wie der äußersten Belebtheit erweckte ...

Sein Triumph in den Augen blinkt unerträglich. Du hast einen Mann vor dir, der seinen Fuß auf den scheinbar erlegten Oskar stellt und von mir Beifall verlangt. Du hast eine Lena vor dir, deren Riß sich immer mehr vertieft. Um einen Zusammenstoß mit Götz zu verhindern, will ich mich sofort, ohne ihn anzublicken, zurückziehen, was er aber verhindert, indem er mich am Oberarm packt.

Ich wende mich hilfesuchend an Beate, die Götz vorhält, daß er wieder einmal heimlich gesoffen habe, was diesen aber nur einen Lacher kostet. Er baut sich vor der Tür auf, wölbt die Brust, legt die Arme an die nicht vorhandene Hosennaht und schwingt dann die Linke auf und ab, während er das Zitat fortsetzen will.

Doch Beate stürzt zu ihm und entwindet ihm empört das Buch, worauf er, demonstrativ weitermarschierend, mit höhnisch verzerrtem Gesicht, rhythmisch abgehackt zu brüllen beginnt: Die-LTI ... ist-einzig-darauf-ausgerichtet ... den-einzelnen-um-sein-individuelles-Wesen ... zu-bringen-ihn-als-Persönlichkeit ... zu-betäuben-ihn-zum-gedanken-und-willenlosen-Stück ... einer-in-bestimmter-Richtung-getriebenen ... und-gehetzten-Herde ... ihn-zum-Atom ... eines-rollenden ... Steinblocks-zu-machen!

Bevor ich die Tür hinter dieser Szene zuwerfen stelle ich mir meine bedenkenlos zuschlagenden Fäuste in dieser selbstgefälligen Fratze vor, blutige Fingernägelspuren, eine verbissen-wütende Racheaktion.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Freitag, 7. Dezember 2012

DB-041 17 (Beate blickt Götz mißbilligend an)

17

Beate blickt Götz mißbilligend an, aus seinem Verschlag in der Küche herausgekommen ist, und wirft ihm vor, sich an ihren Eltern abreagiert zu haben. Götz zuckt gleichgültig mit den Schultern, stellt Kaffee auf und fragt mich, ob ich auch eine Tasse wolle.

Ich nicke, worauf Götz aufatmend feststellt, daß man sich jetzt (nachdem uns die Orthodoxie verlassen habe) endlich wieder frei bewegen könne. Bevor ich ihm sagen kann, daß er mir keine Erklärung schuldig sei, fährt er Beate über den Mund: Wenn sie sich schon so ruppig aufführe, müsse sie mich aber auch über die Ursachen seines Verhaltens informieren.

Das nimmt er jedoch lieber selbst in die Hand: Vor zehn Jahren habe er in einer Bude im Erdgeschoß eines recht vergammelten Baus gehaust, einem ehemaligen Laden mit riesigen Fenstern, durch die es ständig die kalte Luft ins sogenannte Wohnzimmer hereingepreßt hat. Dahinter, neben dem Kabinett, in dem er geschlafen habe, sei die Küche der einzige Ort gewesen, wo er sich tagsüber habe aufhalten können, ohne von Straßenlärm und Witterung belästigt zu werden.

Vor Oskar sei er damals ein Nichts gewesen, weil er damals nicht besser gewohnt habe, was noch verstärkt worden sei durch den Umstand, daß dieser seine beiden Töchter als seinen Besitz betrachtet habe, über den nur er zu bestimmen habe. Weil er ihm ständig die Grenzen der Verfügungsgewalt über Beate bewußt gemacht habe, könne ihm Oskar bis heute nicht verzeihen.

Zum Tauziehen um dieselbe Frau (des einen Tochter, des andern Geliebte) sei dann noch verstärkend dazugekommen, daß er Oskar wegen seiner Mentalität habe verachten müssen: Anstelle des herbeigesehnten geistigen Vaters, schreit Götz, hat sich Oskar als einer entpuppt, der schamlos seine Privilegien ausnützt; als einer, der einfach ins kapitalistische Ausland abhaut und von dort aus falsche Nachrichten wider besseres Wissen verbreitet oder zumindest zuläßt, daß sie verbreitet werden, wo er doch als Korrespondent einen viel besseren Zugang zu den Informationen hat als jemand, der hier in der Hauptstadt sitzt.

Am schlimmsten jedoch sei gewesen, sei es noch immer, daß Oskar sich der herrschenden Sprachregelung unterwerfe, ohne den Versuch eines Widerstands zu machen. Von Anfang an habe er gutgeheißen, daß seine Sätze in die offizielle Hof- und Jubelsprache verkehrt worden seien. Und seit langem verwende er diese selbst, sei unheilbar mit ihr verseucht.

Aufreizend an Oskar sei auch jetzt noch, daß er sich so einfach mißbrauchen lasse, dem Mißbrauch zustimme, selbst eine Haltung einnehme und eine Sprache verwende, die sich keineswegs enorm von dem, was der berühmte Klemperer LTI genannt habe, Lingua Tertii Imperii, Nazi-Sprache also, unterscheide. Götz verläßt schwungvoll den Raum.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Donnerstag, 6. Dezember 2012

DB-040 (16) (Gleich geht es weiter)

Gleich geht es weiter mit einem: Zur Abwechslung mal ein Liedchen? Das Lied vom Bruno? Vorher hält er sich kurz seine Armbanduhr vor die Augen und brummt beruhigend: Das kriegen wir schon hin.

Dann legt er los. Bemüht um ironisierenden Vortrag, läßt er zwischendurch bewußt einen falschen Ton zu und klatscht sich zugleich auf die Schenkel. Bruno, ein Schulkollege, der hat schon Marx gelesen, wie die andern noch Mickey Mouse als die letzte Offenbarung empfunden haben. Für sie ist der Bruno natürlich der Starke, der Mutige gewesen, weil er immer geradewegs herausgesagt hat, was in seinem Kopf vorgegangen ist, auch wenn es zu seinem Nachteil war.

Nach dem Abitur hat er Philosophie studiert, und der Sänger hat ihn nur mehr selten gesehen, wobei er immer sehr abgespannt und schläfrig gewirkt hat. Seine Studienkollegen haben ihn eindeutig für einen Spinner gehalten, für einen, der nicht richtig tickt und immer nur Schnee quatscht.

Als dann der Fahrer zur Armee muß, erfährt er bald, daß man den Bruno von der Uni geschmissen hat. Er verliert ihn einige Zeit aus den Augen, weil er Hilfsarbeiter in der Chemie wird.

Als er ihn dann einmal zufällig trifft, beharrt der Bruno auf der Richtigkeit seines Lebensweges: Er wolle weder eine Datsche noch strebe er irgendwelche Pöstchen an; und son Zeugs wie Orden, die kotzten ihn an. Er wolle einfach leben, weshalb er sich auch auf keinen fixen Job einlasse, einmal Kellner, dann Filmstatist oder Totengräber sei: Erst jetzt bekomme er eine kleine Ahnung vom Leben.

Schließlich gibts Hiebe für ihn, grinst der Blonde. Er sei etabliert, wirft ihm Bruno vor, irgend etwas habe ihn korrumpiert, er sei wie die meisten anderen geworden, weshalb es gar keine Tragödie sei, daß er seinen Namen längst vergessen habe.

Der Fahrer bricht ab, steigt auf die Bremse, biegt nach rechts ein und hält direkt vorm Deutschen Theater. Sie sehen ja, wie korrumpiert ich bin. Er drückt die rechte Vordertür von innen auf, Julia kippt den Sitz nach vorn, steigt aus und läuft zum Eingang.

Stefan erwischt im Aussteigen einen Zwanziger und einen Fünfziger, österreichisches Geld. Devisen? Schenken Sie mir, was Sie wollen, antwortet der Mann im Auto, Gas gebend. Stefan legt noch einen Zwanziger dazu und drückt ihm die Scheine in die Hand.

Im Foyer winkt Julia, die bereits den Mantel abgelegt hat, aufgeregt mit zwei Karten. Als Stefan bei ihr stehenbleiben will, deutet sie auf die wenigen Besucher, die noch eingelassen werden wollen. Wir haben keinen Grund zu so einem Schiß wie der Typ. Trotzdem zischen wir jetzt gleich da rein. Stefan ergreift die Gelegenheit, sie an der Hüfte sanft in Richtung Schwitzbad zu schieben.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Mittwoch, 5. Dezember 2012

DB-039 (16) (Ludwig grinst Julia an)

Ludwig grinst Julia an, als würde jetzt die Fortsetzung einer längeren innerfamiliären Diskussion folgen müssen, doch diese bringt das Gespräch sofort auf die geplante Abendunterhaltung, und Stefan bleibt keine Wahl: Majakowskis Schwitzbad ist bereits beschlossene Sache.

Schätzt hoch die Kunst, welche füllt die Kassen - Ludwig zitiert -, doch die vom Sturm des Oktobers glüht heiß, die Kunst, die glänzt als Waffe der Klassen, überläßt sie den Feinden um keinen Preis. Das sei eine der Losungen im Zuschauerraum des Meyerhold-Theaters gewesen, fügt er an.

Er ist ein Paradearbeiter, lobt ihn Julia. Er ist gebildet, er kann dir auch die deutschen Klassiker hersagen. Und Hölderlin.

Ludwig hat von Uwe abgelassen, der mit viel Speichelfluß sein Käsebrot mampft. Er habe die Literatur nicht nur in sich hineingefressen, sondern auch verdaut, wozu ihn ja schon seine Übersetzerkurse zwängen. Wie die Arbeit, seine Arbeitskollegen, die Probleme am Arbeitsplatz, so bestimme auch die Literatur sein Leben. Er könne daher Julia ohne weiteres in die Phosphoreszierende Frau verwandeln, sie mit deren Geist erfüllen, und Stefan, wenn er nichts dagegen habe, in Triumphanschikow, Chef der Hauptverwaltung für Koordinierung und Kompromißwirtschaft.

Bevor sich aber Stefan mit der ihm völlig unbekannten Rolle vertraut machen kann, gilt es aufzubrechen, um noch Restkarten an der Abendkasse zu ergattern. Da es für die S-Bahn inzwischen zu spät geworden ist, versucht Ludwig telefonisch ein Taxi zu organisieren, aber an keinem der Stände in der näheren Umgebung hebt jemand ab.

Stefan ist mit Julia, die sich nicht mehr umziehen wollte, nur ihren Zopf geöffnet hat, bis zur Station Adlershof gefahren. Ihre Haare hat sie nach links geschoben und dort in Nackenhöhe zusammengeklemmt.

Stefan verläßt einige Schritte hinter ihr den Bahnhof. Sie dreht sich mit ratlosem Gesicht zu ihm um und wartet, bis er sie eingeholt hat. Sie habe keine Ahnung, warum heute keine Taxis mehr hier seien. Sie blickt auf ihre Armbanduhr und überlegt, ob es nicht doch noch möglich wäre, mit der nächsten S-Bahn rechtzeitig einzutreffen.

Da betätigt jemand hinter den beiden die Lichthupe, und ein blonder Mittzwanziger mit einem Menjoubärtchen und Brillantine-gebändigten Haaren steht plötzlich neben Julia und bittet sie, ihm schnell zu flüstern, wohin die Fahrt denn gehen solle: ins Blaue, ins Grüne oder ins rosarote Nichts?

Na siehst du, triumphiert Julia, es klappt ja doch noch. Es braucht eine Weile, bis Stefan begriffen hat, nun schon neben Julia im Fond des schneidig gelenkten Trabants, daß er sich in einem - verbotenen - privaten Taxi befindet, dessen Fahrer sich allabendlich sein Zubrot verdient.

Um die Fahrgäste von Fragen zur Person abzuhalten, flunkert der junge Mann lautstark, begleitet von entsprechend energischen Gesten, vor sich hin. Er besitze einen gefälschten Paß, den er für Fuhren nach West-Berlin einsetze, frei nach dem Motto: Strick, Gas oder Paß.

Und gleich ein Rat: Sollten Sie einmal an der Grenze gefragt werden: Haben Sie Rauschgift oder Waffen?, stellen Sie sich genauso dumm wie mein Freund Hans-Dieter aus dem Goldenen Westen und fragen Sie einfach zurück: Muß man das neuerdings haben, um bei euch überhaupt reingelassen zu werden? Und - er dreht den beiden hinter ihm lachend das Profil zu, meckert schon, bevor er die zweite Pointe losgeworden ist - er ist rübergekommen; aber erst, nachdem er genug Ordnungsgeld auf den Tisch geblättert hatte, heiße West-Mark, wegen Verarschung der Volkspolizei.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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