Mittwoch, 16. Januar 2013

DB-63 (23) (Schweigen)

Schweigen. Der Mann saugt, und ich rinne. Ich presse die Schenkel zusammen. Ich habe die Binde in meiner Handtasche, aber ich wage nicht aufzustehen. Ich will sprechen, aber erst nach seinem erlösenden Wort, das nie kommt.

Jetzt mußt du mir zuhören, über tausend Kilometer hinweg. Ich hatte damals ein Verhältnis mit einem Katholiken. Ich war ausgehungert, verurteilt, den ganzen Tag als Erzieherin im Internat zu verbringen, und da war dies der einzige Mann, der sich im Moment angeboten hat, und ich habe dieses Angebot trotz der Warnung meines Gefühls angenommen.

Vielleicht wollte ich mich nur demütigen, indem ich mit einem Katholiken, der mich sofort niedermachte, verkehrt habe - zuerst redend in meinen Kaffeehäusern, dann irgendwo auch sexuell.

Wie ich schon vorher wegen dieses Wegwerfens auf mich gezeigt habe, so hat er nachher in Wirklichkeit auf mich gezeigt. Gerade, daß er mich nicht ausgelacht hat. Ich war nichts wert. Eine Frau, die sich vor der Ehe mit einem Mann einläßt, verdient nur Verachtung.

Dabei hat er mich hineingelegt, indem er immer wieder betont hat, er sei sterilisiert. Ich war arglos, froh, endlich keine Verhütungssorgen haben zu müssen. Als es dann doch passiert ist, kam er mit seinem furchtbaren Zeigefinger: Das sei die einzig richtige Strafe für eine Hure wie mich.

Damit waren die kurzen Momente der Zärtlichkeit vorbei. Ab nun regierten nur mehr die Angst und die hirnverbrannte Religion dieses Mannes. Er hat weder etwas bezahlt noch sich sonst um mich gekümmert. Ich war gestolpert, und zwar über ihn. Daher konnte er mir nicht helfen, mich aufzurichten.

Nun bekam wieder einmal mein Vater Gelegenheit, mir zur Hand zu gehen. Zielstrebig und konspirativ hat er die Abtreibung vorbereitet. Da weder die Internatsleitung noch die Kolleginnen davon erfahren durften, kam nur der Samstagnachmittag in Frage.

Nach Unterrichtsschluß hat mich mein Vater abgeholt und zu einem ihm befreundeten Gynäkologen gefahren. Der war zwar willig, aber ohne die passenden technischen Hilfsmittel. Gleich, nachdem er mir seine Spritze verpaßt hat, hab ich ihm die Ordination vollgekotzt. Er hat geschabt, und ich hab mir auf die Lippen gebissen, um nicht zu brüllen.

In dieser Minute hab ich beschlossen, darüber nie ein Wort zu verlieren. Danach hätte ich pausenlos weinen können.

Mein Vater hat mich übers Wochenende nicht aus den Augen gelassen und immer wieder versucht, mein Schweigen aufzubrechen. Aber so, wie sich meine Gebärmutter verschlossen hatte, verschloß sich auch mein Mund. Meine Erinnerung war in meiner Gebärmutter aufbewahrt, in sie sollte nichts mehr hinein.

Plötzlich rührt sich etwas neben mir, ich schrecke auf. Stefan sagt, ich hätte im Schlaf gewinselt und sei auch durch sein Streicheln nicht zu beruhigen gewesen. Ich schiebe das auf meinen Schwips. Er fragt mich, ob ich denn wirklich zwischen Götz und Beate gelandet sei. Ich schüttle den Kopf und versuche, nicht an den zerstückelten Fötus zu denken.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Montag, 14. Januar 2013

DB-62 (23) (Ich bemerke mit Erstaunen die andere Seite dieses Mannes)

Ich bemerke mit Erstaunen die andere Seite dieses Mannes, zugleich, daß ich an seiner Hüfte lehne, wofür es immerhin die Ausrede der Enge und meines Interesses für den Entwicklungsprozeß gibt. Und ich genieße diese fremde Wärme eines Körpers, der sich im Umdrehen einer weiteren Berührung entzieht.

Götz erkundigt sich höflich, ob ich noch in der Lage wäre, die Vergrößerung der restlichen Fotos durchzustehen, oder lieber ins Bett wolle, worauf ich ihn (aus einer rätselhaften Euphorie heraus) zum Weitermachen anfeuere.

Er belichtet weitere Papiere, läßt sie im Entwicklerbad kommen. Diesmal sind auch Fotos von den Kindern und Beate darunter, die aber Götz als Schnappschüsse abtut. Er lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf die Landschaften. Paradoxerweise stimuliert mich diese glasige Verlassenheit, diese tödliche Kälte von neuem. Alles ist warm und spannend. Auseinandergesplitterte Bäume, Blüten. Dieser blühende, strotzende Mann und diese jetzt so verhärmte Frau. Auf dem nächsten Bild etwas runder, noch vor der Abtreibung.

Nebenher, zwischen den abgestimmten Handgriffen, fragt mich Götz, wie es denn bei mir gewesen sei damit.

Womit denn?

Ja mit dem Bauch, ob der denn auch ganz mir gehört habe, ob ich auch so unverschämt darüber verfügt habe wie seine Frau.

So spricht eindeutig der Feind. Der Mann ohne Feingefühl, der Mann im Alkoholnebel, der Mann, der sich die Frau nur an den Schwanz hält, um in sie hineinzuonanieren, dann furchtbar erstaunt tut, wenn sie ihn zur Verantwortung ziehen will.

Die Stimmung ist weg, ich verdrücke mich unter Berufung auf meine Müdigkeit. Im Bett fühle ich mich aufgerieben, hinfällig.

Jetzt erfährst du endlich etwas Neues, ich sags von selbst. Damals hab ich ein Jahr geschwiegen, auf der Couch liegend, und hinter dem Paravent war nur das Atmen des Analytikers zu hören, wie er ab und zu an seiner Pfeife gesogen hat. Und zu sehen waren nur seine karierten Pantoffeln, aus denen er ab und zu seine Füße zurückgezogen hat, ohne die Stellung der Pantoffeln zu ändern. Der Analytiker hat ein Jahr nichts gesagt, ich auch nicht. Mein Vater hat ihn tapfer bezahlt.

Als ich dieses Schweigen, diese stummen Fußbewegungen nicht mehr aushielt, hab ich unter Tränen zuerst einmal die Geschichte vom Tüllkleid loswerden müssen. Meine Mutter, guten Willens, hat es mir für den ersten Schultag im Gymnasium genäht. Wie ich dann in die Klasse getreten bin, haben mich die anderen angestarrt, als wäre ich von einem anderen Stern.Und ein Gegrinse und Gelächter ist losgegangen, alle haben sich über mich lustig gemacht: Schaut euch die an! Die verwechselt die Schule mit einem Ballett! Sie haben über mich gelacht, nicht über meine Mutter, die mir das angetan hat.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Samstag, 12. Januar 2013

DB-61 23 (Vor mir Götz)

Vor mir Götz im rotwarmen Dunkelkammerlicht, sein Rücken, ich hinter ihm, vom Sekt, von den Erzählungen animiert: Er hat wieder menschliche Züge gekriegt.

Du weißt ja, wie das ist, wenn Stefans Gesicht so plötzlich schlaff wird, so unvital, so abweisend: Er gähnt, bringt den Mund nicht mehr zu, und ich werde immer wacher, wach vor Enttäuschung, daß er gerade jetzt nichts zu bieten hat.

Ich hab ihn dir immer als Ausbund an Regelmäßigkeit, besorgt um seine Verdauung, an die Wand gemalt, als einen mit panischer Angst vor Schlaflosigkeit, vor meinem heißen Körper, der ihm trotz seines geringen Gewichts bald zu schwer wird, den kostbaren Moment des Wegsinkens verhindern könnte.

Immer wieder dieser ängstliche, distanzierende Blick, der dich vermuten läßt, das Schlimmste der Welt stünde ihm bevor. Nicht anrühren, nicht aufhalten, soll er doch allein ins kalte Neujahrs-Schlafzimmer taumeln, allein den Rest der ersten Nacht bewältigen müssen.

Du kannst ruhig die Brauen runzeln wegen soviel Ungerechtigkeit. Aber ich bestehe auf meinem Recht, dir einmal nicht nachzueifern, deine Maximen außer acht zu lassen, auch wenn es mir vor deinem zu erwartenden zynischen Lächeln alles zusammenzieht. Du wirst schuld an meinen Bauchschmerzen, an meiner Verstopfung sein.

Ich stilisiere dich natürlich wissentlich zu einer Übergöttin, zum Beobachterauge einer mich führenden, mich nicht im Elend allein lassenden, nur widerwillig gutmütigen Mutter. Nie sagst du etwas, immer deutest du nur. Aber deine Zeichen sind minimal und immer doppelsinnig.

Du hast mir nicht verboten, hinter diesem Mannsbild herzuschleichen. Du hast ihn nicht als meinen Feind gekennzeichnet.

Er hat weder ja noch nein gesagt, als ich ihm hinter den Vorhang gefolgt bin. Aber er hat mit mir wetten wollen, daß er sehr wohl noch in der Lage sei, trotz seiner Sekt-Schlagseite, tadellose Vergrößerungen zustande zu bringen. Ich habe nur seine überzeugenden Muskeln gesehen, seinen breiten Rücken, seine dichte Haarbürste, umgeben von bläulichem Elmsfeuer.

Er hat behauptet, er könne auch in diesem Licht seine Filme verarbeiten. Er hat geleugnet, daß etwas davon auf ihnen sichtbar werden würde, ihrer Qualität abträglich sein könnte.

In den Schalen schwimmen bereits einige belichtete Papiere. Er sagt, für ihn sei das der wahre Moment der Schöpfung, wenn quasi aus dem Nichts das Bild auftauche. Er brüstet sich mit seiner Kunst, sich fotografisch Landschaften anzueignen.

Es gehe um Blickwinkel, Standpunkte, Überschneidungen, Gewichtsverteilung von Schwarz und Weiß. Was zum Vorschein kommt, sind Fotos von großer Ausdruckskraft, eindringliche Dokumente der Kälte und Trostlosigkeit. Dünen, verwehter Schnee, gefrorene Flächen, Schotterstreifen, bizarres Gestrüpp. Dahinter das Meer: heranrollende, eiskalte Wogen, gläsern erstarrt. Keine Farben, nur Licht und Schatten. Keine dramatischen Blitze, nur eine mittelmäßige Düsternis.

Er liebe den mittelgrauen Grundton, gesteht Götz, die feinen Übergänge von einem Grau zum andern, die Plastizität, die sich aus den Abstufungen, nicht aus den Gegensätzen aufbaut.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Donnerstag, 10. Januar 2013

DB-60 (22) (Beate stimmt ein)

Beate stimmt ein, mit dem Strickzeug aufgeregt herumfummelnd: Freude an der Arbeit, Opferbereitschaft, unermüdlicher Erfindergeist... Sie verkutzt sich, weil sie plötzlich lachen muß.

Götz schließt sich ihrem Gelächter solidarisch an, klopft ihr zur Beruhigung auf den Rücken, bis sie nicht mehr hustet. Dafür springen ihr die Tränen aus den Augen. Sie lächelt und wünscht sich ihre Schwester herbei, zur allgemeinen Verwirrung, und zwar sofort.

Und Julia präsentiert sich wirklich, in einem rot-schwarz geflammten Kleid. Stolz, der sich als Menschlichkeit zeigt, setzt sie Beates Satz fort mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre sie keine Erscheinung, die dem zunehmenden gemeinsamen Rausch entsprungen ist.

Sie trägt eine Kristallschale, auf der ihr Kopf liegt, dessen Haare zu Boden strömend die Faust verbergen, die den Stengel der Schale umklammert hält. Julias Kopf als Geschenk an alle.

Die fliegende Zeit, dröhnt er, fegt und reißt allen Ballast weg, der schwer ist vom alten Plunder und ausgehöhlt vom Unglauben.

Das wars, sagt Götz, nachdem alle einen Augenblick an sich, ihrer Zukunft, ihrer Wahrnehmungsfähigkeit gezweifelt haben. Wir schaffen es auch mit allen möglichen psychologischen Tricks nicht, Zeiten, Menschen und Räume zu versetzen. Um sich auszunüchtern, bedarf es keines Traums; man muß nur an den nächsten Tag denken.

Trotzdem steigt Julia, diesmal mit dem Kopf an der richtigen Stelle, auf den Tisch, läßt die Lampe gegen die Decke schnellen und redet Wirres über Fabriken, die regenbogenhaft glänzen, über den lebendigen, wirklichen, wahrhaften Sozialismus. Aber auch diese Julia schrumpft schnell in den Mund ihrer Schwester zurück, die Stefan nie anrühren würde.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

Dienstag, 8. Januar 2013

DB-59 (22) (Stefan packt Lenas Hand)

Stefan packt Lenas Hand: Sie ist feucht und warm. Sie bleiben lauschend stehen, hören ein Geräusch und überlegen lang, ob das, was sie vernehmen, ein Wasserrauschen sein könnte, und tappen sich weiter, bis sie zu einem steilen Abhang gelangen, wo sich ihre Vermutung bestätigt. Sie beschließen, am Wasser entlangzugehen, bis sie auf eine Brücke stoßen, die es ja irgendwo geben muß.

Ich habe befürchtet, sie rutscht aus, sagt Stefan, gleitet den Abhang hinunter, und ich finde sie nicht mehr, sie ertrinkt; was da unten rauscht, ist ein reißender Fluß. Also hab ich sie an mich gedrückt, und so haben wir uns über Steine, Grasbüschel, aus der Erde ragende Wurzeln zwischen Baumstämmen und Gebüschruten immer weiter zum Wasser hinunter vorgearbeitet, zwischendurch lauschend, aber wir haben nur unseren Atem gehört, unsere Stimmen, das Knacken der Äste unter unseren Füßen.

Im Talgrund nahe beim Wasser hätte die Phosphoreszierende Frau erscheinen sollen. Ein Feuerwerk hätte die Dunkelheit aufhellen müssen, Böllerschüsse, Ohrenschmaus, der Marsch der Zeit ertönt.

Stefan schaut zu Götz hinauf und stockt. Denn der thront bereits weit über ihm, schüttet sich pausenlos scharfen Schnaps auf die Zunge und spült seine Mordgelüste - sicherlich Oskar betreffend - wortlos hinunter.

Lena rettet die beiden Männer vor einem unvermeidlichen Mißverständnis und reißt den Schluß der Erzählung an sich. Sie hätten sich danach am Waldrand vorangearbeitet, ohne Zeitgefühl, mit immer schwerer werdenden Füßen, weil die schneenasse Ackererde sich angeklebt hat, sie aufsaugen wollte.

Schließlich sind sie gegen einen Hochstand geprallt, der ihnen im Moment als Rettung erschienen ist. Oben war ihnen aber die Vorstellung einer Nacht von mindestens zehn Stunden bei zunehmender Kälte, womöglich noch mit einem eisigen Sturm, der sie zwingen würde, die Leiter rauf- und runterzuklettern oder den Hochstand überhaupt zu verlassen, Anstoß genug, die Suche nach einer Straße oder einem asphaltierten Weg fortzusetzen.

Das Erschreckende, fügt Stefan hinzu, war diese Geräuschlosigkeit, so als ob alles Menschliche rundherum versunken wäre, jedes Leben erstorben, nur Welt knapp hinterm Urknall. Dazu draußen vor den Fenstern bereits das Knattern und Krachen, herinnen das drohende Wiedererscheinen der übernächtigen Kinder.

Und die Rettung, schließt Götz dieses Kapitel, sonst säßet ihr ja nicht hier, ist ein Weg gewesen, der euch hinausgeführt hat.

Und eine matte Straßenlaterne, nickt Lena, jetzt beinahe phosphoreszierend im Nebel der Zigaretten, noch auf Stefans Seite der Front, die quer durchs Zimmer läuft. Genossen, zitiert sie, mit dem ersten Signal schießen wir vorwärts und zerreißen die altersschwache Zeit. Die Zukunft nimmt jeden auf, den mindestens eine Eigenschaft mit dem Kollektiv der Kommune verbindet ...

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-15 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Sonntag, 6. Januar 2013

DB-58 (22) (Jetzt kommt das Parallelogramm in Bewegung)

Jetzt kommt das Parallelogramm in Bewegung, Beate verläßt ihren Platz, Lena rückt unmerklich näher zu Götz, läßt ihrer Hand, ihrem Arm viel weniger Spielraum neben seinem Körper als vorher, Stefan aber wird von einer Erinnerung an ein Erlebnis überwältigt, das er zum Angelpunkt der Beziehung zu Lena erklärt.

Er muß ihr signalisieren, daß es hier noch seinen festen Willen gibt, eine eindeutige Erinnerungsstruktur, die ihn und Lena als ein stabiles Paar erscheinen läßt, ein selbstverständlich wirkendes Vergewissern des Daseins durch einen Griff auf ihren stacheligen Schädel, den er gleich in eine Streichelbewegung in Richtung Nacken umlenkt, um dieser Geste das Gewicht zu nehmen, das ihr die andern vielleicht beimessen könnten, wären sie aufmerksame Beobachter.

Eine Prüfung sondergleichen zu zweit, sagt Stefan und blickt Lena an, die sich nun etwas aufrichtet und von Götz wegrückt, um sich vielleicht, durch ihn, Stefan, hindurch, Oskar anzunähern, lächelnd in Richtung Oskar zu blicken mit ihren weit aufgerissenen, grünbraunen Augen, braungrün konturiert, einem zarten, vielschichtig abgestuften Gewölk in der Iris, einer kleinen, den Raum und die Szene widerspiegelnden Pupille, Stefan eingeschlossen, was er aber nicht wahrnimmt.

Damals ist es noch hell gewesen, erinnert sich Stefan laut, etwa fünf Uhr nachmittags, als sie den Wald betreten haben, auf einer schnurgeraden Forststraße, die sie sofort in Versuchung geführt hat, von ihr abzuweichen, um sich auf den nur notdürftig kenntlichen, verschlungenen Seitenpfaden weiterzubewegen, wobei sie die Richtung verloren haben.

Obwohl sie glaubten, sie würden auf die Forststraße zugehen, entfernten sie sich immer weiter von ihr. Die Dunkelheit nahm schnell zu, Nebel fiel ein, und das Ganze geriet zu einer Wasser- und Feuerprobe ihrer Nerven. Während sie mit rasch abnehmender Hoffnung, je wieder zurückzufinden, weiterschritten, wurden sie Opfer aller möglichen Sinnestäuschungen. Sie glaubten Geräusche zu hören - von Autos, Flugzeugen, Menschen. Wenn sie sich ihnen näherten, verstummten sie, ertönten aber bald danach aus einer ganz anderen Richtung.

Dieses Umschlagen von Gerade-noch-Lustig-Finden in die immer stärker beklemmende Angst. Dieses Um-jeden-Preis-das-Gesicht-nicht-verlieren-Wollen. Diese winzigen, schnell verglühenden Hoffnungsblitze. Und dies alles bei zunehmender Finsternis, während sie der Nebel immer mehr einhüllt, bis sie schließlich versinken in einer blinkenden, gleichmäßig wattierten Nacht, in der sie sich in Handreichweite nur als etwas hellere Schemen von der Umgebung abheben.

Das Gewünschte tritt nicht ein, der erlösende Weg zeigt sich nicht. Also bleibt nur das messerscharfe Urteil oder die Rückbesinnung auf rudimentäre Instinktschichten oder Kindheitserlebnisse, Abenteuergeschichten, in denen die Helden keineswegs im Nebel umkommen oder plötzlich in ein schwarzes Loch fallen oder von einem lautlos heranschwebenden Riesenvogel entführt bzw. gerettet werden.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-14 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Freitag, 4. Januar 2013

DB-57 (22) (Mongo)

Mongo.

Klar vor Augen sei ihm aber noch die Szene, wie er sich einen 5 kg-Sack Knoblauch gegen den Widerstand des Mädchens erstanden habe: Selbst im Traum sei er von dem Gedanken verfolgt gewesen, hier gebe es Knoblauch nur alle zwei Jahre und dann nur in winzigen Mengen.

Mongo.

Dann habe er sich allerdings verirrt, sei rauf und runter gefahren, doch die Treppe habe kein Ende gehabt, und vor ihm mit seinem Knoblauchsack seien alle Leute geflüchtet, er habe sich ständig über die Augen wischen müssen, was das Falscheste war, was er tun konnte.

Jetzt ist kein menschlicher Laut mehr zu vernehmen gewesen, flüstert Götz, nur das Geräusch der rasch rollenden Treppen, wobei diejenige, auf der ich gestanden bin, sich immer schneller, mit immer schnellerem Knacken hinunterbewegt, ein immer stärkeres Rauschen erzeugt hat, bis dann plötzlich Stille eingetreten ist und mich das Gefühl erfaßt hat, ich würde schweben, hinunterschweben, den Knoblauchsack an die Brust gepreßt, immer mehr aus allen Poren schwitzend - lautlos bin ich dem Erdmittelpunkt entgegengesunken.

Mongo.

Götz zündet sich eine weitere Zigarette an. Und Stefan starrt auf seine rote Lena, die ihm noch weiter unter den Tisch gerutscht erscheint, während er ein Gläschen Schnaps nach dem andern in sich versiegen spürt, gerade die richtige Wärme erzeugend, um das Auftauchen der Phosphoreszierenden Frau - falls sie ihr Versprechen auch einhält - ertragen zu können.

Verirren.

Wer von der Richtigkeit seines Wegs überzeugt ist, behauptet Götz, genießerisch an seiner Zigarette saugend, der kommt auch nicht um, der kehrt heim. Er habe sich einmal mit Freunden in der Hohen Tatra verirrt, die Gruppe jedoch retten können, weil er an einer Wegkreuzung hundertprozentig sicher gewesen ist, der richtige Abstieg sei links, nicht rechts. Mit denen, die sich ihm angeschlossen hätten, habe er die lebensrettende Hütte gefunden und dann auch noch die restlichen Kameraden herunterholen können.

Weg und Ziel.

Die Abweichung vom Weg, sagt Götz, das Aus-den-Augen-Verlieren-des-Ziels. Die Angst vor den Mühseligkeiten des Wegs, die Zweifel an der Richtigkeit des Wegs. Die Zweifel an der Richtigkeit des Ziels. Das Wagnis, das als Wagnis bestehen bleibt, auch ohne Weg und Ziel.

Weg könne auch heißen Lebensweg, und da müsse er sofort an seinen Freund Rolf denken, der viel weniger Glück gehabt habe als er: Als begleitender Kameramann eines Bergsteigerteams im Kaukasus hat er mit diesen die Orientierung verloren. Man hat unter einem Felsüberhang Unterschlupf gefunden und sich unter einer Plache zusammengekauert, wobei Rolf am äußersten Rand seinen Platz gehabt haben muß, weil ihm, ohne daß er es merkte, der linke Fuß abgefroren ist.

Dabei ist es aber nicht geblieben: Der zweite Fuß ist dem Rolf beim Verladen eines Findlings in der Nossentiner Heide zermanscht worden; so, mit dem Mus im Schuh, ist er bis zur nächsten Ortschaft gewankt, wo dann das Schicksal in Form einer Krankenschwester zugeschlagen hat. Sie hat ihm durch ihre inbrünstige Pflege alle Lust auf Abenteuer jeglicher Art gehörig ausgetrieben, ihn umgepolt in Richtung Ehe, Seßhaftigkeit, Kleben an einem Fleck, Zuspecken, gegenseitigem Bekochen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-12 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Mittwoch, 2. Januar 2013

DB-56 (22) (Mongo)

Mongo.

Das ist vielleicht mongo, sagt er und bleckt die Zähne. Mongo, nach einem chilenischen Comic aus den fünfziger Jahren, fügt er hinzu, von ihm aufgegriffen auf Anregung durch einen chilenischen Flüchtling, der den Alexanderplatz so nannte, weil er ihn an die Darstellung zukünftiger Städte erinnert hat. Mongo, das ist die Haltung, die eine solche Stadt hervorbringt, ein Wohnkästchen neben und über dem anderen, eine Menschenschachtel neben und über der anderen.

Götz greift nach einer Mappe im Regal links neben ihm und holt eine Zeichnung heraus, die die Dehnbarkeit dieses Begriffs demonstrieren soll. Ein grünschwarzes Menschenmonster - auch das ist mongo. Mongolisch, mongoloid. Wer ist hier nicht mongo, wir alle sind mongo, auch ich bins, wenn ich so etwas anfertige.

Er zeigt eine von ihm entworfene Postkarte: Rotes Herz hinter grauem Gitter; darüber der Text: Ein herzhaftes 1983. Mongo bin ich aber auch, weil ich zu feig war, es zu verschicken, damit ich keinen Ärger bekomme. Er blickt zu Beate: Und du bist mongo, weil deine Familie mongo ist.

Ärger.

Götz dämpft seine Zigarette im leeren Schnapsglas vor ihm kraftvoll aus. Bevor sie bei der Frau König eingezogen sind, sagt er, ist er mehrmals hier herumgegangen, um die Leute zu fragen, wie denn das Wohnen in der Gegend sei. Dabei ist er an ein älteres Ehepaar geraten, das sofort aggressiv reagiert hat. Die Frau habe die Handtasche gegen ihn erhoben, der Mann habe sich nicht ausreden lassen, er sei ein ZDF-Reporter und wolle die Leute zu Aussagen über die hiesige Umweltverschmutzung erpressen. Wenn das nicht mongo ist!

Traum.

Er habe - im Traum - einen Antrag für eine Reise nach West-Berlin gestellt. Ein S-Bahn-Fahrer habe ihn aber, bevor irgendeine Antwort eintraf, mehrmals nach drüben mitgenommen, sozusagen auf Probe.

Einmal bin ich in einem riesigen Kaufhaus gelandet, sagt Götz, im KADEWE, und staunend und völlig euphorisch an den vollgefüllten Regalen vorbeigezogen, von einem Stockwerk zum anderen, und immer noch dieses Überangebot, diese Unmenge verschiedenster Waren, bis in den letzten Winkel. Schließlich habe ich in der Käseabteilung haltgemacht und mich nicht satt sehen können an den mehr als hundert Sorten aus Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Österreich, Westdeutschland, Holland und Dänemark.

Bei einer Selbstbedienungskassa in der obersten Etage habe ich eine Portion BULEX verlangt, in der Meinung, das sei etwas völlig Exotisches, das sei ein von mir irgendwann erfundener Markenname für eine himmlische Speise, die ich mir ausgedacht habe. Ich habe mich setzen müssen - auf meine eigenen Unterarme, denn Sitzgelegenheiten hat es keine gegeben -, und die Verkäuferin hat mir mit der größten Selbstverständlichkeit eine riesige Portion BULEX über die Theke gereicht, wobei ich mich nachher nicht mehr erinnern konnte, woraus das Gericht eigentlich bestanden und wonach es geschmeckt hat.


(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-13 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Sonntag, 30. Dezember 2012

DB-55 22 (Von diesem Gemisch)

22

Von diesem Gemisch aus düsterer Leidensgewißheit und Stolz auf das Anderssein, das diese Leiden jederzeit von neuem am eigenen Leib verspüren läßt, schlägt die Stimmung um in eine Silvesterbewältigungsmanie, gegen die Stefan im Moment nichts einzuwenden hat. Wenn ein Schlußpunkt gesetzt werden muß, droht auch ein Neubeginn.

Stefan hat vor, am Tag des scheinbar neuen Anfangs der noch nicht beglichenen alten Schuld zu gedenken. Er wird mit Lena nach Sachsenhausen fahren, um dort zur Ehre des ermordeten Großvaters von Beate dessen Kraft neu zu beleben, die Selbstverständlichkeit seines Widerstands.

Plötzlich kreischt Sascha und boxt Boris blitzschnell mit frechem Grinsen in die Rippen, worauf dieser seine flache Hand auf den Hinterkopf seines Bruders fallen läßt, sodaß er mit der Nase auf der Tischplatte anschlägt und danach blindwütig mit den Fäusten gegen die Brust von Boris trommelt, bis Götz dazwischenfährt, den Jüngeren an sich reißt und in die Höhe hebt. Er schüttelt ihn, bis aus der Schüttelbewegung ein Kreisen, ein Auf- und Abflattern des Kindskörpers geworden ist, von dem die Tränen in weitem Bogen wegfliegen, sodaß sich Boris mit theatralischen Beschwörungsgesten vor ihnen zu schützen versucht.

Ohne Rücksicht auf seine Gäste zu nehmen, poltert Götz mit den Kindern durch die Wohnung, bis auf einmal Ruhe einkehrt und Götz, zurückkommend, verkündet, er habe die beiden mit dem Versprechen, sie rechtzeitig zu wecken, zum Niederlegen überreden können.

Nachdem kurze Zeit nicht entschieden ist, was diese zwei Paare nun bis Mitternacht in der Sitzecke des Wohnzimmers miteinander anfangen sollen, reißt Götz die Initiative an sich und tischt Schnaps, Kaffee und Kuchen auf.

Dann setzt er sich neben Beate, anfangs kerzengerade, zur Feier des Tages rauchend, westdeutsche Roth-Händle, und weist auf seinen grünen Nickipullover, wie die Zigaretten ein Geschenk seiner Schwiegereltern, was ihn keineswegs mundtot macht, nicht einen einzigen Augenblick.

Stefan stellt sich eine Selbstauslöser-Blitzaufnahme von einer sechzigstel Sekunde Dauer vor.

Götz hat seine Hand in der Höhe seiner Lippen, verwischt, sodaß man nicht feststellen kann, ob er spricht oder nicht; neben ihm in etwa eineinhalb Meter Abstand seine mit dem Strickzeug klappernde Frau, der die schwarzen Haare vom Mittelscheitel aus strähnig übers Gesicht fallen, den Mund so verzerrt, als ob sie ständig das Blut von ihrer aufgerissenen Unterlippe in sich hineinsaugen würde, damit es niemand bemerkt; daneben Stefan selbst, in seinem schwarzen Hemd, die Rechte mit dem Ellbogen auf die Tischfläche gestemmt, mit der nach außen gewendeten Faust den Kopf, der dadurch nach hinten gekippt erscheint, abstützend; und Lena, mit teils rosigen, teils schattendunklen Ohren, in rotem Pulli, roten Jeans, fast unter den Tisch gerutscht, als säße sie auf der äußersten Kante eines weichen Fauteuils; und hinter Götz und Beate der fünffache Bogen der Rückwand eines Doppelbetts, bedeckt mit wolkiger Nußfurnier, von Götz hier unter einem schmalen Brett mit Büchern und Mitbringseln von der Ostsee eingepaßt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-11 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Freitag, 28. Dezember 2012

DB-054 (21) (Beate kann nicht mehr sitzen)

Beate kann nicht mehr sitzen, weil sie das Kreuz schmerzt. Du siehst eine Frau sich ans Bücherregal lehnen, an deren Körper ein dünner, weißer Pulli und eine rote, schlabbrige Hose hängen, die darunter so mager ist, daß sie mich, als sie gestern abend nackt und triefend aus dem Bad zum Telefon in ihr Zimmer gelaufen ist, sofort an gewisse Abbildungen erinnert hat, auf denen nur hohläugige Gerippe zu erkennen sind.

Sie müßte zusammenbrechen, aber die Begeisterung für den Großvater scheint sie zu stärken. Im Brief seines alten Genossen wird ihm große Denklust zugesprochen, sagt Beate. Die Grundlagen dazu hat er aus statistischen Jahrbüchern und dem Handelsteil der bürgerlichen Presse entnommen. Seine Reden hat er nicht mit Zoten, sondern mit geistreichen Wortspielen aufgelockert.

Immer korrekt gekleidet, aber persönlich anspruchslos, hat er die Fadenscheinigkeit seiner Hose zum Wahlspruch erhoben: In dieser Hose werden wir siegen! Zuhause hat seine Frau das Regiment geführt. In die Erziehung seiner beiden Töchter hat er nicht eingegriffen, was mein Vater (also Oskar) nicht anders gemacht hat.

Trotz aller Aufgeschlossenheit seien sexuelle Dinge als Gesprächsthema tabu gewesen. Obwohl theoretisch monogam, habe der Großvater, darin siegreicher Nebenbuhler des Briefschreibers, zwei Freundschaften parallel zur Ehe weitergepflogen: einerseits in Form von gelegentlichen Stelldicheins mit einer schönen polnischen Schauspielerin, der er stets ein Souvenir zu hinterlassen pflegte; andererseits in Form von fast täglichen Besuchen bei seiner Leipziger Jugendliebe, die ihm 1935 nach Duisburg gefolgt sei und nach seiner Verhaftung Selbstmord begangen habe.

Beates Großvater ist zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden und I944 nach Auschwitz und dort sofort ins Gas gekommen. Damit ist er jedweder Kritik entrückt, lebendig als beispielhafte Energie.

Genauso unangreifbar erscheint mir mein Vater: Denn wenn er die Tatsachen seines Lebens so lang überleben und bewältigen konnte, kann ich ihm keine Schuld geben an den Tatsachen meines Lebens. Alle meine Vorwürfe gegen ihn haben sich als lächerlich, kleinlich und nichtig erwiesen, sind in sich zusammengesackt in Anbetracht des Umstands, daß er ein Leben wie im Buche geführt hat. Das macht ihn unverletzbar, bei allen berechtigten Vorwürfen, schuldlos in jedem Fall.

Unterm Strich kommt für mich der Zwang heraus, alle Schuld auf mich zu nehmen, so als ob ich bereits mit einer Schuld geboren worden wäre, als ob meine Geburt die größte Schuld gewesen sei.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-10 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Mittwoch, 26. Dezember 2012

DB-053 (21) (Beate wendet sich wieder dem Sockenstopfen zu)

Beate wendet sich wieder dem Sockenstopfen zu, fährt aber in ihrem Bericht über den Großvater fort. Je mehr sie sich mit dem Material beschäftige, desto mehr könne sie sich mit der Position der KPO identifizieren: gegen die Sozialfaschismustheorie, gegen den Trotzkismus, gegen die Hegemoniebestrebungen der KPdSU und der Internationale, gegen den Personenkult.

Du siehst, in Beate habe ich (erstaunlicherweise über die Grenzen des Systems hinweg) eine Art Leidensgenossin: Um nicht vom Geschichtsstrom mitgerissen und weggeschwemmt zu werden, hat sie sich einen kleinen Zufluß, der schon längst versiegt war, als Quelle ihres Selbstverständnisses ausgesucht. So kann sie geistig bestehen, Widerstand leisten, auch gegen ihren Vater, und dieser läßt sich sogar als Zuträger einsetzen.

Es gibt in ihrer Familie sichtlich beide Traditionen, das Mitschwimmen und den Widerstand, und Beate hat das Mitschwimmen zunehmend verweigern können, vor sich ein Vorbild, das sie noch dazu in einem nahen Verwandten finden konnte. Sie kann sich auf eine scheinbar verlorengegangene Position berufen, kann ihren Großvater im Widerstand gegen ihren Vater einsetzen, zugleich aber die Vorteile seiner politischen Stellung ausnutzen.

Die Gruppe des Großvaters, setzt Beate fort, sei im November I936 von einem Gestapo-Spitzel, einem ehemaligen KPD-Linken, verraten worden, der im Prozeß auch den Hauptbelastungszeugen abgegeben habe. Dabei hätten alle Angeklagten zwar ihre Schuld im juristischen Sinn, nicht aber im moralischen anerkannt.

Beate zieht den Brief des Freundes ihres Großvaters aus einer roten Mappe und legt ihn vor Stefan hin, der ihn aufmerksam studiert. Der Freund habe Bedenken gehabt, weil er das Ansehen des Großvaters mit (wie er es nannte) zwielichtigen Details nicht beschmutzen wollte.

Sie lacht verhalten. Er habe jedoch eingesehen, daß die Wahrheit schwerer wiege als die persönliche Rücksichtnahme, noch dazu auf einen Toten; daß eine wohlüberlegte und durch Zeugen belegbare Geschichtskorrektur wichtiger sei als das opportunistische Zukleistern der noch nicht zerstörten Quellen.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Seitenblick: B-09 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Sonntag, 23. Dezember 2012

DB-052 21 (Aus meinen Selbstdarstellungen)

21

Aus meinen Selbstdarstellungen kennst du ja Stefans Übertragungsmechanismen schon zur Genüge. Meine Herkunft, mein notgedrungener Familiensinn, meine zwanghaften Distanzierungsversuche faszinieren ihn. Er wartet immer auf Augenblicke, in denen etwas vom Geheimnis, das jede Person meiner näheren Verwandtschaft anscheinend umgibt, ans Licht kommt. Er stellt gern enthusiastische Fragen und ist enttäuscht, wenn die Antworten weniger enthusiastisch ausfallen oder überhaupt verweigert werden.

Stefan ist ein Nachgeborener, der dies nicht als Glück, sondern als Nachteil auffaßt, als einen Makel, der seine Phantasie immer um die Zeit vor seiner Geburt kreisen läßt und ihn mit Menschen verbindet, die von ihr gezeichnet sind.

Daß seine Familie nicht belastet ist, scheint ihn nicht zu beruhigen. Manchmal kommt es mir vor, als würde er sich ihrer schämen, weil sie höchstens Mitläufer aufzuweisen hat. Dabei ist er selbst zum Mitläufer einer Überlebenden der zweiten Generation geworden, die seinen künstlich vertieften Wunden, seinen manchmal vehement vorgetragenen Selbstvorwürfen häufig viel zuwenig Beachtung schenkt.

Jetzt gerät ihm Beate zwischen die Fänge, die am Tisch in der Bücherecke des Wohnzimmers sitzt und die Socken ihrer Kinder stopft. Sie gibt bereitwillig Auskunft über ihre Arbeit, und Stefan kriecht in sie hinein, saugt sie aus, läßt nicht locker, bis er alles erfahren hat, was sie über ihren Großvater mütterlicherseits, also den Schwiegervater Oskars, weiß. Der sei im Rheinland als Funktionär der KPD tätig gewesen, bis es dann Ende der zwanziger Jahre zur Abspaltung einer kleinen Splittergruppe alter, erfahrener Kader, die sich Kommunistische Partei Opposition nannten, gekommen sei.

Sie habe eine ihrer Tanten, die in der BRD lebt, auf seine Spur gesetzt, worauf sie ihr eine Kopie der Akten des Prozesses, der schließlich gegen ihn und seine Freunde geführt worden sei, und der Urteilsbegründung habe besorgen können. Ebenso habe ihr Vater zu einer Erweiterung des Wissens beigetragen, indem er ihr die Antworten eines noch lebenden Freundes des Großvaters auf einen von ihr erstellten Fragenkatalog aus Genf mitgebracht hat, die einzige Quelle zur Rekonstruktion von persönlichen Details.

Obwohl ihr Großvater wie viele der anerkannten Leitfiguren und Helden ein Opfer der Nazi-Herrschaft geworden sei, habe man seine Verdienste nie offiziell gewürdigt. In der Schule sei über die Mitglieder der KPO immer nur als Verräter und Kapitulanten gesprochen worden, was sie selbst einmal auch geglaubt habe. Wie ihre Mitschüler habe sie diese noch schlimmer als die Sozialdemokraten einzustufen gelernt.

Inzwischen sei sie aber zur Auffassung gelangt, ihr Großvater habe die Situation damals im Gegensatz zur offiziellen Parteilinie richtig eingeschätzt, besonders 1927, wo die KPD eine eigene Gewerkschaft gründen wollte, während die KPO für den Verbleib in der alten gewesen ist.

Beate legt das Nähzeug weg, erhebt sich, will uns etwas zeigen. Sie kommt mit einigen Schriftstücken aus dem Schlafzimmer zurück und breitet sie auf dem Tisch neben den Socken aus.

Die Anklage. Sie sei ungewöhnlich ausführlich in ihrer Begründung, sodaß daraus die Grundzüge des Lebens ihres Großvaters sichtbar würden. Er habe sehr rege für die KPO gearbeitet, Versammlungen in den Ortsgruppen des Bezirks Niederrhein abgehalten und die meisten Funktionäre persönlich gekannt. Die Anklage bezichtige ihn, vor der Wahl Ende Juli 1932 den Saalschutz für eine kommunistische Wahlveranstaltung organisiert und dazu einem Mitangeklagten eine Pistole übergeben zu haben. Deshalb sei er von Mai bis Dezember 1933 inhaftiert gewesen.

Als im darauffolgenden Jahr mehrere Funktionäre der KPO festgenommen worden seien, habe er sich für eine Wiedervereinigung mit der KPD eingesetzt, jedoch den demokratischen Zentralismus als in der Illegalität undurchführbar abgelehnt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-08 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Samstag, 22. Dezember 2012

DB-051 (20) (Die Ehrlichstraße ein Stück rauf)

Die Ehrlichstraße ein Stück rauf, immer bedacht, den Platten in der Mitte des Gehsteigs zu folgen, um dann von der Liepnitzstraße aus den Seepark zu betreten, der gerade umgestaltet wird.

Gegen den Widerstand der Bevölkerung, besonders der Kinder, wie Beate vorhin in der Küche gesagt hat, während sie das von Götz für sie vorbereitete Frühstück eher lustlos hinuntergeschlang, um sich dann die Kleiderschürze umzubinden und systematisch die Küche zu putzen, den Kühlschrank, die Kästchen, die Küchentür, und das mit einer Genauigkeit, einer Inbrunst, die die Aussagen ihres Ehemanns Lügen straft.

Hinter den neuen Betonspielplätzen baut sich eine lange Mauer auf, die die Trautenauer Straße vor einer Möbelfabrik abgrenzt. Dort verläßt Stefan den Park, um quer durch die Siedlung Wuhlheide zu einem Wäldchen vorzudringen, das vor allem aus Birken und Fichten besteht.

Der dritte Akt hat sich verzögert, der Regisseur ist auf die Bühne getreten, um Kritik am Theater zu üben.

Stefan wehrt sich nicht, daß er nur atmen und gehen muß. Währenddessen Fragmente eines Streitgesprächs zwischen dem handelnden Helden und dem seinen Text ihm verschreibenden Regisseur.

Stefan muß die würzige Luft des letzten Tags dieses Jahrs bewußt ein- und ausatmen, angesichts der Tatsache, daß morgen - im neuen Jahr - bereits ein anderer Wind wehen wird. Und er muß diese Bäume betrachten, als wären sie die letzten Bäume seines Lebens: diese weißen Birkenstämme, ihr feines Geäst, und dazwischen die niedrigen, immergrünen Fichten, hinter denen plötzlich rechts vom Weg sich ein Zaun abhebt, ein umgittertes Areal, auf dem etwa zwanzig Militärfahrzeuge abgestellt sind, von einem Turm aus von Soldaten bewacht.

Beim geöffneten Tor stehen einige ihrer Kameraden herum, fünf oder sechs formieren sich zu einer Reihe und marschieren auf das Kommando des ersten über den Waldweg in Richtung Dunckerstraße, wobei sie an dem sie musternden Stefan vorbeimüssen: sehr junge Burschen mit asiatischen Gesichtern unter den zurückgeschobenen Helmen und hervorquellenden schwarzen Haaren, ihre Augen nur kurz und scheu in Richtung Stefan drehend.

Der Held kritisiert den Realismus des Autors: Daß er einen verantwortlichen Genossen in ein solches Licht setze, sei lebensfremd, unnatürlich. Der Regisseur verteidigt den Autor mit dem Hinweis, daß er mit Genehmigung des Amtes für Literatur ausnahmsweise einen negativen literarischen Typ vorführen wollte. Der Held kritisiert das Träumertum des Autors und setzt dagegen die genaue Berechnung von Aufwand, Mittel und Wirkung.

Stefan berechnet nichts, blitzartig stellt sich die Erinnerung an eine Erzählung seiner Mutter ein - der Regisseur lächelt, der Held tobt -: Beim Einmarsch der Russen ist Stefans älterer Bruder noch nicht einmal ein halbes Jahr alt gewesen. Die Mutter hat aus irgendeinem Grund einen Kochlöffel in der Hand, als die Küchentür aufgeht und ein russischer Soldat hereinstürzt, sie einen Augenblick wütend mißt, zu ihr tritt, ihr den Kochlöffel aus der Hand reißt und ihn an seinem Knie in kleine Stücke zerbricht.

Danach das freundliche Palaver des Soldaten mit dem Baby im Kinderwagen. Es ist gelegen, hat sich die Mutter erinnert, und der Soldat hat gefragt: Sitzt nicht?, und Stefans Mutter hat den Kopf geschüttelt, aber der Soldat hat Stefans Bruder einen Polster hinter Kopf und Rücken gestopft, in die Hände geklatscht und immer wieder stolz auf seine Wundertat hingewiesen: Sitzt, Frau, schau, sitzt!

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

(Blick zum Nachbarn: B-09 PALME/RICHTEX, BAHNALOG)

Freitag, 21. Dezember 2012

DB-050 (20) (Ins neue Jahr mit neuem Haar)

Ins neue Jahr mit neuem Haar: Götz ist stolz auf seinen Slogan und setzt ihn sofort in die Tat um. Je kürzer, desto besser, fordert Stefan. Perversling, lacht Beate und reicht Lena einen Sessel. Die Kinder raus, kommandiert Götz, auf die fünf Fernsehprogramme mit Nachdruck verweisend.

Die Veränderung Lenas hebt an mit raschen Schnitten und eindeutigen Griffen von Götz. Verjüngung, Rasur bis zur Haut, Austreibung des eindeutig Geschlechtlichen bei Vermehrung des Menschlichen, damit des allgemein Erotischen.

Stefan assoziiert zum Scherengeräusch immer lauter werdende Stimmen in einem großen Saal. Gelächter, kämpferischer Tumult.

Aus dem Kopf Lenas erhebt sich die Phosphoreszierende Frau, spricht, ohne sich umzudrehen, aus ihrem schwarzen Männeranzug mit elastischer, tiefangesetzter Stimme: Heute haben wir uns getroffen, aber unsere Begegnung ist flüchtig.

Wir sehen das Große unserer Arbeit noch nicht. Sie verstehe die Macht des Willens der Anwesenden und den Lärm ihres Vorwärtsdrängens. Begeistert habe sie wahrgenommen, wie die Buchstaben der Legenden über ihren Kampf lebendig geworden seien.

Sie verstehe, daß sie keine Zeit haben, hinter ihre Arbeit zurückzutreten und sich zu bespiegeln, sondern den Kampf gegen die bewaffnete Welt der Parasiten und Unterdrücker fortsetzen müssen. Aber in der Zukunft liege die Vergangenheit auf der Hand.

Plötzlich Lena, fast völlig geschoren, die sich erhebt, Stefan unsicher anlächelnd. Ob sie denn nicht zuviel Haare gelassen habe. Keineswegs. Dann muß Kaffee her zum Feiern.

Lena reibt ihn in einer klapprigen Mühle, vergißt aber, ihn in die Kanne zu tun, pures heißes Wasser in ihre Tasse schüttend, stellt sie enttäuscht fest, daß der Kaffee seltsamerweise nicht greife. Klar, ergänzt Beate, Ost-Kaffee greift nie, West-Kaffee immer, bevor sie Lenas Irrtum bemerkt.

(Die Berliner Entscheidung, Residenz Verlag, 1984)

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