Montag, 27. Februar 2012

0089 - SHIT

shit shit schrie ich
als mir mein mädchen ins ohr flüsterte
sie sei schwanger von mir die worte
des standesbeamten gingen unter

im getöse der preßlufthämmer
draußen vorm fenster
aus Döbling Hietzing Grinzing
wo die feinen leute wohnen

zurückgekehrt nach vier wochen
und gegenüber in der imbißstube
für jeden ein halbes brathühnchen/hähnchen
es berührt mich peinlich

verheiratet herumzulaufen
als liefe man mit zwei verschiedenen socken
und offener hosentür:

aber es hat mich einfach gereizt
so ein feines mädchen aus gutem haus
aufs kreuz zu legen nur so sagte er

(do.25.2.1971)

Freitag, 24. Februar 2012

0088 - JUGEND

jugend ist eine lüge
die jeder braucht
um in wahrheit zu altern:
die glatze meines vaters
ist vielleicht nicht die glatze
meines noch ungeborenen knaben
oder mädchens das jetzt mehr denn je
meine gedanken beherrscht
meine aufwachträume
ihr aufplatzender körper
von 0 auf 60 in einer sekunde

zwischen den zeiten
ist nicht in der zeit:
mein linker fuß ist rot
mein rechter rosa
mein bauch ist braun
grün (oder weiß) mein haar:
zwischen meditation und verwirklichung
ist meine verschlossene hose
meine mutter fleischhaft wahrhaft herzhaft
(ihr weißes fleisch
auf der glatze meines vaters bzw kindes)
lügt sich den krebs
in lunge und brust
um in dieser lüge
jung zu sterben

(mi.24.2.1971)

Mittwoch, 22. Februar 2012

0087 - RÄUMLICHE VERHÄLTNISSE

räumliche verhältnisse
als eine innerseelische verengung:
du schläfst nebenan
und jeder atemzug beeinflußt
meine absicht meine absicht
ist ein mischmasch
aus abgewürgter (sinnloser)

aggression und dem immer schwächer
wiederholten versuch
hier utopie zu etablieren
das heißt eine phantastische
großzügigkeit in bewegung kleidung
sprech und denkrhythmus: du kommst

(wie ich) nicht weg von mir
(von dir) unsere heißen rücken
verkleben sich feucht
unsere todesängste
steigern sich gegenseitig
einige verklemmtheiten
haben sich verflüchtigt

andere sind steinhart:
räumliche verhältnisse als ausrede
für eine allgemeine verdumpfung
verdunklung ein lichtstärkeres
objektiv verhilft nur solange
zu einem deutbaren bild
solange die dämmerung (schizophren)
nicht überhand nimmt

(do.18.2.1971)

Samstag, 18. Februar 2012

E-12 SCHMERZSEKUNDE

plötzlich der Schmerz, unerklärlich, sagst du,
ein kleiner Schmerz, von der Mitte her
unterm Nabel, eine Spanne darunter,
aber auch, und das ist nur ein Gefühl,

eine Spannung, die in die Breite geht,
nach rechts, auch nach links, nach unten,
sodaß im Kopf eine Wölbung entsteht,
eine gewölbte gekappte Halbkugel aus Haut,

glänzend, etwas wie Schwangerschaft,
schwanger der Bauch und der Kopf, sagst du,
der ja von hinten her auch mit einer Wölbung
nach vorn hin wächst, etwas für die Finger

beim Ansatz des Schädels bereit hält,
wo ein Finger, nicht derjenige, der mitdenkt
(es ist der mittlere) gleich über dem
Doppelhorn (eigentlich ein Hörnchen)

eine Delle vorfindet, sodaß ein Finger
beinahe hineinpaßt und jeder Denkvorgang
(theoretisch) auch von da hinten beginnen kann,
nicht mit dem Zeigefinger auf der Nase oder

auf dem Kinn, sondern im Nacken, inmitten
des Haars, das hier sehr dicht ist, auch dicht
bleiben wird, wenn den Vorfahren, der Mutter,
zu glauben ist, sagst du – plötzlich der Schmerz,

eine Nichtigkeit, die kurz einknicken läßt,
eine Schmerzsekunde ohne Zutun, ein Schmerz
aus dem Schlaf heraus, ein Fehltritt,
eine Fehlinformation, ein Alert,

der nicht bestellt gewesen war, und jetzt
wo der Schmerz hell aufklingt, ein Zeichen,
daß er barmherzig sein wird, etwas, sagst du,
mit einem nichtigen Höhepunkt, nicht erwünscht,

überhaupt nicht, eine undifferenzierte Warnung,
ohne eine solche verlangt zu haben, Wunsch
war vielleicht ein kleiner wabernder Gedanke,
eine Idee mit Zahlen, die Bereitschaft, mit

Zahlen, Wörtern und Daten zu spielen, ein Zahlenspiel,
das sich während des Vormittagsschlafs von selbst
im Vormittagstraum lautlos effektiv inszeniert,
festfrißt und sich dann der Erinnerung preisgibt,

ohne anhaltende Verstimmung, gekrönte Erinnerung
an einen Hauch schmerzhaften Einblicks
in die Ursache dieses Schmerzes von der Mitte her,
unterm Nabel, eine Spanne darunter, sagst du

(Montag, 13.2.2012, 10.38 Uhr)

Dienstag, 14. Februar 2012

D-22 JARDIN DES PLANTES

neben vernachlässigten Tieren
nur graue, verbitterte Wärter,
die sich heimlich mit dem Fleisch
für die Raubtiere vollstopfen.

Kein einziger Panther im Tanz
von Kraft, mit großem Willen.
Nur schläfrig blinzelnd, ein Löwe,
wie alle anderen Tiere in einem

baufälligen Käfig. Schildkröten,
die einander mit knirschenden Panzern
in unbeirrbarer Langsamkeit für immer
aus dem Weg räumen wollen.

Und am Ende der Qualen kehrtgemacht,
und wieder Auf-einander-Vorrücken,
Millimeter-Kampf im gelben Wasser,
vor ausgeblichenen Naturlandschaften.

Hingegen die Orang Utan-Frau
ganz Mutter inmitten von Holzwolle
unterm grünen Tuch mit ihrem Kleinen.
Herauslangt eine riesige Tatze

mit frappantem Fingerspitzengefühl.
Daneben zwei junge Wilde auf Seilen,
die scheinbar nach roten Bausteinen haschen:
sie huldigen nur ihrer Bewegungslust.

Vor dem Gitter ein Mann, der weltabgewandt
an einer Figur herumspachtelt,
kleiner Teil eines Affen-Theaters
für die winzige Ewigkeit seiner Existenz.

Draußen ist schon Frühling, im Park
wird stürmisch gekehrt.
Die Magnolien platzen.
Der braune Dinosaurier beim Eingang

ist nur ein Modell aus Metall.
Das schwarze Klavier inmitten
der heftig grünenden Wiese
klafft stumm und wund

(Donnerstag, 29.4.1999, Paris)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

Sonntag, 12. Februar 2012

D-21 PLACE DU SORBONNE

keine Krisenverbreitung,
keine Longlife-Parolen
zur Erheiterung irgendwelcher
Individuen, auf Stills fixiert.

Fasziniert bis in die Zehen -
könnte hier sitzen bleiben
und Blicke, Wendungen von Köpfen,
Körperausbuchtungen, Kleiderfalten,

Reflexe auf Kaffeehausfenstern
mit einem Knopfdruck für immer
festhalten wollen, meine kleine Ewigkeit.
Alle atmen unsichtbar.

Arme, Brüste, Beine erhaben,
versunken in dünnflüssiger Luft.
Hände alt, verkrustet.
Gesichter gefroren in dem Moment

des Erkennens, ihrer Sekundenmaske.
Speichelreste in den Mundecken.
Schminke an Stellen, wo sie nicht hingehört.
Haare wie aus Stein,

herausgewachsen aus dem Untergrund,
angestäubt vom Himmel, vom Asphalt her.
Grundwasser könnte sie speisen,
Erdwärme beleben, ihr Druck sie

aufblähen zu Ausstellungsstücken
der Evolution. Laufend
schwenkt das Auge
zwischen rechts und links hin und her,

findet menschenartige Zufallstreffer
vor Restspiegelungen von Häusern und Bäumen:
zieh dieses Leporello hinter mir her -
bis ich bei Pimkies lande

inmitten eines Ansturms
von Stoffen und Häuten: auf einmal
völlig wunschlos, federleicht,
versöhnt mit der Dingwelt

(Freitag,16.4.1999, Paris)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

Freitag, 10. Februar 2012

D-20 PARISER MORGEN 1

entlassen aus dem gestrigen
Tag wie dem Mutterleib,
der längst verfault ist -
was sollte ich jetzt feiern: Ort

oder Stunde ihres Todes,
das Spital, das ich Jahre
danach aufsuchte,
leer und funktionslos geworden,

ohne ihr Zimmer, das Bett
identifizieren zu können?
Atemloses Durchstreifen
im Gedanken, zugleich

voller Neugier auf Überreste
der anderen Leben,
die anderswo wesen, hier nur
Grußkarten zurückließen, Weinreste,

Häkelpölsterchen, Harnflaschen, Briefe,
Familienfotos, Prospekte,
unverbrauchte Medikamente,
Metallgeräte zwischen abbröckelnden

Mauern. Jetzt in der Fremde
ein rotbrauner Haarschwall,
aus dem etwas zu mir spricht,
Mutter und Vogel

(Donnerstag, 1.4.1999, 7.10 Uhr, Paris)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

Mittwoch, 8. Februar 2012

D-19 PARIS ODER SO

Paris, plötzlich so fern wie nah, als ob ich wüßte, wovor
ich entweiche, nicht aber, wonach ich suche: immer wieder
die Versuchung zur Flucht zu Menschen in fremden Ländern,

in ihre vielleicht genausowenig gesunde Moral, ihre Sitten,
sie kommt und geht; und besser und schlechter ist gleich; gleich
auch das Hier- und das Dortsein: auf einmal La Grande Arche

auf dem Bildschirm, vor mir auf dem Blatt, schimmernd,
Ansporn zum Aufbruch, der dann nicht stattfindet, auch nicht
für eindringlich Fragende: wie es denn gewesen sei am Rive Gauche,

auf dem Eiffelturm, im Hotel Saint Simon bei überschwappendem
Atlantikwetter, an französischen Tischen, all die Tests in Geduld und Neugier:
stets ein Gewinn, einen unzweifelhaft schlechten Zustand

gegen einen nur zweifelhaften einzutauschen, wie Montaigne meint,
baumhaft aus seinem Grab irgendwo draußen heraufwachsend;
im Duett mit dem Mann von La Mancha, hauchdünne Stimme

aus dem Radio, Mensch gegen Figur, die sich erhebt aus dem Staub
und gegen die Reflexe des Fensters, der Lampe, dieses Zimmers ankämpft,
in dem alle meine künftigen Entscheidungen schon bereitstehn

(Samstag, 26.12.1998)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

Samstag, 4. Februar 2012

D-18 SOHN IM SEZIERSAAL

Sohn, dem vor der Leichenhand schaudert,
deren gelber ledriger Haut, vor Fleisch, Fett
und Knochen unter dem stumpfen Skalpell.

Sohn, der sich schon täglich stundenlang
hantieren sieht in solch steriler Umgebung
auf dem Metalltisch mit abgetrennten

Armen, Beinen, Köpfen und nicht sofort
benennbaren Innereien. Sohn, der das alles
todernst übt, wißbegierig, auch leer.

Sohn des Schweigens, Sohn der Liebe, Sohn der Angst.
Sohn, der in seiner Größe auf- und abschwingt,
mich nicht mehr erreicht. Sohn, von mir

in den letzten Minuten hundertmal verstoßen.
Sohn, unnahbares Geschenk, dem ich mich
auf immer vermachte. Sohn, der die Liebe

mit süffisantem Widerspruch hintertreibt,
ausgefuchstem Verweis auf fehlende Logik,
Belächler meiner verzehrenden Fürsorglichkeit.

Sohn, der die nächste Generation als Konzept
schon in sich trägt, jetzt, als er mir
mit Genuss den neuschmalen Schädel darbietet,

mit anschmiegsamen Ohren, Ringelhärchen
im Nacken, rötlichem Ziegenbart,
Großvaters kupiertem Nasenknorpel.

Sohn, der plötzlich aus der Straße herauswächst,
weißbemantelt, blutbeschmiert,
wie nach einer schiefgegangenen Operation.

Mit ironischem Vorwitz würde er mir jetzt gern
seine endlich zertrümmerten Weisheitszähne
zuwerfen, mit einer minimalisierten Geste

vor dem Institutstor. Und ich,
zwischen den Schienen tief atmend,
erwache aus meiner Sekundenabsenz.

Und ich: gleich in seinen Armen, die mich hoch-
schleudern, auch auffangen. Und ich: beim Essen
neben ihm, seinem doppeldeutigen Lächeln

(Dienstag, 4.5.1999)

Mittwoch, 1. Februar 2012

E-11 THERAPIE

unsichtbares Hirn – Gedanken, dauerhaft bloßgelegt – Demütigung,
so die Gedankenfolge, in einer andern Sprache, Frauensprache,
so süß, so schlimm. Ja, ein Gebrumm, Sirren, ein Kopfdröhnen,
schon zu Füßen der Therapeutin, hingestreckt, während sie
schön lächelt, von oben herab. Schönsein, das nur Erstarrung bewirkt.

Und Locke, blond quer über den Körper. Als so Geteilte enthüllt
sie das Hauptorgan des Diskurses genau: wie symbiotisch
der Klient kleben muß an ihr. Er klebt nicht, er wütet. Er wütet
aus sich heraus, dem pulsierenden Schulterblattschmerz,
der sich in ihre Wangen hineinwühlt, ihren Haarschwall.

Sie lächelt - so süß, so schlimm - durch ihn hindurch, gleißt
im Sonnenstrahl, der neben ihr hereinbricht, ihn blendet.
Bald im Abendglanz ganz ihr zu Füßen, als wär er ihr Sohn,
den sie mit Füßen treten kann, jederzeit. Als wär er ein Kleidungstück
zum An- und Ausziehn, und sie zieht es an, lächelt schön und

schlimm, stampft auf – das alles kränkt. Ihre Sprache kränkt,
ihr schönschlimmes Gesicht kränkt; auch daß sie brummt und sirrt,
als hielte sie seine beiden Ohren besetzt. Es ist kein Verweis,
sondern Verlockung, so süß, so schlimm, ihr zu Füßen hingedreht,
in seine Augen ihre Welt. Er riecht nichts, so lockert ihn seine Allergie.

Von ihren Schuhn gestreift, er beginnt den Diskurs, stellt ihren
Frauenheilkreis völlig in Frage. Sie steht über ihm, im Vorbeihuschen
zum Stehenbleiben verlockt, hochschwanger, entbietet ihm
einen Schluck ihres Fruchtwassers: Du mußt dich entscheiden,
tauch ein, tauch auf und geh! Er läßt sich bloßlegen, kränken,

seine Kränkung wie ein Zauber (im Zuber), der ihn stärkt,
die männliche Schulter, die er selbst ist, und oben balanciert
der Kopf, in dem sich ihr Schmerz bündelt, in ihrem aber auch
seiner, zugleich ein Gelächter, Theorie des glücklichen Ausgleichs,
so süß, so schlimm dessen Lobpreisung – endgültige Unterwerfung

(18.5.2011, 21.20 Uhr)

Samstag, 28. Januar 2012

E-10 TRAUM VOLLER TRAUER

abgewandt, mit angezogenen Knien
im Bett - ihr Kopf inmitten der Haare,
weit nach vorn gestreckt, sie als Ganze
ein geknicktes S. Möchte allein sein beim Weinen,

niemandem ihre Tränen zeigen,
nur Trauer fühlen, darüber nicht reden.
Das Letzte wäre eine zärtliche Anwandlung.
Der eine und der andere versteht sie nicht,

verstärkt nur die Scham. Verschließt sich im Bad.
Als Abgewandte wieder da, und ist –
nach diesen vielen entgangenen Augenblicken –
eine sich fremde, vorwurfsvoll brennende Gestalt.

Das im Traum. Danach eingeklemmt
zwischen zwei Frauen, und keine weint.
Mich als Entscheidungswilligen verstört hingegen
das überm Kopf hängende Gleichgewicht

(Sonntag, 11. September 2005, 3.40 Uhr, Venedig)

Mittwoch, 25. Januar 2012

O-22 WIEDERKEHR

auf diesen Tisch mußt du noch einmal dein Bein legen,
aus Lust an einem Zufall, der dich den Schuh abstreifen läßt:

ihn vergrößernd, würd ich ihn küssen wie ein fleischliches Stück,
während du dir Todesarten ausmalst,

die dich nicht quälen, zähe Selbstverletzungen genauso
wie die reziproke Zurichtung durch deine Tochter.

Bei ihr bist du allgegenwärtig,
bei mir nur in den wenigsten Momenten.

Jetzt behauptest du dich als Spezialistin des Abbruchs,
die den Schmerz immer vorhersieht, sich schon vorher versagt.

Das alles ereignet sich auf der Folie eines Mannes,
der ständig anruft, um deinen Aufenthalt zu erkunden:

du gibst dem nach, selbst auf dem Klosett.
Dort rinnt etwas aus dir, goldgelbe Flüssigkeit,

die niemand auffangen wird außer mir:
was in deinem Mund verschwand, unter dem gerafften Mantel

lautlos sich verwandelt hat, vom Blut aufgesaugt,
oder in der Blase zwischen den Beinen,

in der schon anderes lauerte, dich nur ein wenig quälte,
zwischen den Sätzen: Kostprobe deines Lebens.

Bald wird der Spiegel steigen,
darin auch die Lust, die Distanz hält,

bis du mich als Gast betrachtest in einer Zelle,
wo hintereinander mehrere Begleiter auftreten,

nach dem Gewohnheits- oder Zufallsprinzip
dich in deiner Muttersprache reden lassen:

sonor, Luxus andeutend, Lebensverfestigung.
Die Spritzer schmecken nach dir, deinem Gift,

auf meiner schwierigen Zunge,
bis in mein Dickkopf-Hirn

(Donnerstag, 20.07.2000, 6.40, Pilastro)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007.)

Montag, 23. Januar 2012

O-21 NULLVERSTAND

ich schämte mich, wessen, deiner, der Gefühle,
sofort versiegt, am Anrufbeantworter:
Nullverstand, völlig klar, schlugst jede Warnung
in den Wind. Blicklos sahst du herum,

begriffst überhaupt nichts. Ist dir alles egal,
geisterst du nur am Strick deines Mannes,
der Eltern, eines Gotts, der im Ausland dahinstirbt?
Ich mißachtete dich für deine schlampige Art,

mit Angst umzugehn, innerem Aufruhr,
mit Gelegenheiten zum Ausbruch, besserem
Spracherwerb. Stand plötzlich vor dir,
schon Tage hinter dir her, vergeblich,

die wenigen Schritte reichten nicht. Abrupt weg,
und dich dann einfach vor mich hingestellt.
Welche Fragen verbargst du hinter den Armen,
wie zufällig über deinen Brüsten verschränkt,

in der flüchtigen Abwärtsbewegung entlang
der Mantellinie, dem gestoppten Anfassen:
deine Hand schlapp, kalt, meine gedopt von der
monatelangen Erwartung, herausgerissen

aus dem Vergessen? Überließ dich der Herde
Studenten, die dich den Gehsteig hinaufschwemmten.
Du holtest Geld aus dem Bank, von zu Hause,
von allen Seiten, für ein Bad in Ersatzluxus,

anscheinend keine Sünde, wenn Angetraute, Verwandte
all das ersetzten, schnellstens, was zwischen Seufzern zerrann.
Jetzt hätte ich noch gern etwas Deutliches gesagt,
dich zurückholend in meine verbissene Projektion:

ich weiß, ich kann nicht auf Vergebung hoffen, Lust, maximale,
je nach Ansturm der Möglichkeiten. Ich geb mir sicher
noch eine Chance, Ausgleich für mein Versagen: bist ja
zugleich auch verständig, und klug, so anders schön

(Montag, 25.09.2000, 17.20)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007.)

Donnerstag, 19. Januar 2012

O-20 JT

müßte ja mit unrechten Dingen zugehn,
wenn dein Blick wiederkehrte, dein Schnipsen
über den gierig schnappenden Karpfen-
mündern unter der Brücke, inmitten von

Möwen, Krähen und darunter kein
gewöhnlicher Teich, sondern Rußland,
Astrachan, das Kaspische Meer,
so blau wie ausgedruckt. Konsomolzin,

Caritas-Helferin, die du warst auf Geheiß des Bruders:
verschwindest hinter Glasscheiben
hast schon Sätze, die neuesten,
für deine Eltern, die täglich zurückschreiben:

du antwortest prompt, gewissenhaft, tanzt
den Reigen deiner Unsicherheitsskrupel
bravourös, lädst dich schon auf,
während wir noch durch den Donaupark streifen,

geblendet vom falschen Frühling, der künftigen
Moral der Geschichte, die uns schon jetzt
bedrängt als Stufenleiter falscher Entscheidungen.
Sinkst mit dem Kopf auf dein Buch, öffnest

die Augen mit trübem Blick, ohne den Traum
zu verraten vom Mann, der schnell die Tafel löscht,
sich aber umdreht ohne seinen Text,
dich brenntraurig anstarrt:

schlägst Kapital daraus, auch aus meiner
hoffnungsvollen Anwesenheit, die vielleicht
eine ganz andere meint, keine Spielerin,
keine Rubel-Flüchtige, die ihr Kind zurückläßt,

auch keine, die von überall aufgelesenen
Ermunterungen lebt zu Schritten nach vorn:
Du weichst nicht zurück, widerstehst
dem zärtlichen Blick deines Bewachers,

jedweder konjunktivischer Tätigkeit
hinter meinem Horizont: bleibst in Trance
die mich einlullt, als wär ich der Gelähmte,
den du in seine Badewanne hochhievst allmorgendlich

(Montag, 7.02.2000, 0.30 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007.)

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