Dienstag, 17. Januar 2012

O-19 BUKOWSKI

bei Bukowski denk ich an F. oder H.,
Säufer in meinem Alter, trocken,
doch unberechenbar auf immer. Schickt
der eine ein E-Mail EILT EILT EILT,

Treffpunkt Berlin, günstige Gelegenheit,
will der andere nicht nur Urkrebschen erforschen,
seine Frau bedrohn, kochen wie ein Gott,
andere Alkoholiker betreuen, wieder Auto fahren,

sondern auch Macht demonstrieren, Wissen,
Selbst-Beherrschung: riecht nicht nur, trinkt
auch Schlückchen, unter dem Titel:
Vorkosten für den Gast. Jetzt gleich weg

aus dieser Szene: da saß die Familie rund
um den Tisch, Landleben, Langeweile; die einen
wollten abfliegen, morgen früh, verurteilten
die andern zum Bleiben, Verrosten, Rösten

am Schoß ihrer Erde, am Schwanz ihres Hundes,
der Kleinkinderhände blutig beißt,
am triefnassen Beißkorb. Beide nun hier
in Berlin nur Papierfiguren, doch wiederauf-

erstehungsfähig im Gegensatz zu Bukowski,
den ich heranzog, weil sich sonst niemand
anbot, beinahe geschenkt, sogar mit dem Tod
im Titel, Lyrik verweigernd:

verband mich mit einem der Doppelgänger
vor zwanzig Jahren - als wir hinausgingen,
das Wasser abschlugen, und keiner kam jemals
wieder zurück in dieses Hotelzimmer voller Staub

(Donnerstag, 20.4.2000, Berlin)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Sonntag, 15. Januar 2012

O-18 SILVESTERPFAD

unter Essenden nichts gegessen;
nichts getrunken unter allen,
die tranken: Ausschenkenden,
Tanzenden mit ihren riesigen
Silbermaschen, Zweitausenderhüten,
rotblinkenden Plastikfühlern.
Sie kamen von allen Seiten.
Ließ sie vorbei,
beäugte sie von den Ecken her,
aus Nebenstraßen,
über Denkmalbrüstungen,
Müllcontainer hinweg.

Nur einer ließ mich stillstehn:
der Feuerjongleur.
Zauberte Feuer um seinen Körper,
erforschte es dabei,
ließ es lang leben:
auf dem Kopf,
in den Achselhöhlen,
zwischen den Beinen.

Dann wandte ich mich ab,
sah nur eine einzige Verlockung
hinter Fensterscheiben:
auf einem Plakat Frauen mit Flügeln,
in Unterwäsche,
übermannt von wintergrünen Schatten.

Und am Ende der Straße,
unter Neonschriften,
ihre unwillkürliche Vermehrung -
Schaufensterpuppen,
in Reih und Glied auf dem Rücken,
die Beine nach oben gespreizt,
in den Knien abgewinkelt,
als würden sie tanzen:
erhoben sich nicht,
demolierten keine Scheiben,
stimmten keinen Chor an,
versammelten sich nicht zum Reigen:
ließen mich laufen,
ins nächste Jahr

(Sonntag, 2.1.2000, 6.35 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Freitag, 13. Januar 2012

O-17 NACHTGESTALTEN

wie es nicht mehr auftaucht. Wie es mich
anstrengt, daran zu denken, daß es vorbei ist.
Wie ich lächle, weil ich glaubte, es wär ganz leicht
wiederzubeleben, wenn ich nur daran dächte.

Wie sich dann doch einige Gesichter herausschälen,
von denen ich nicht weiß, welche Rolle
sie in dieser Nacht spielten. Ich weiß: Mein Kopf
schmerzt. Nachtgestalten verstrahlten

Schmerz in meinen Schlaf. Vielleicht nur Autos,
die mich durchkreuzten. Darunter eines,
das auf ein anderes auffuhr. Sah harmlos aus:
kurzes Krachen, ein wenig zerdelltes Blech.

Und Männer, die einander nicht kannten.
Genau dieser Punkt, genau diese schmerzhafte Stelle.
Ohne Schmerz fährt nichts. Nachts, auf dem Weg
zum Flughafen, bei Regen, zu schnell, was heißt:

jäher Stopp, Abbruch. Zwei gestikulierten,
ein Schwarzer, ein Weißer. Und irgendwann
genau der mit einem schwarzen Kind
an der Kittelfalte, in einer Halle.

Später, nicht in dieser Nacht, nicht mehr da,
in der Stadt, sondern irgendwo an der Nordsee,
vier, fünf völlig Verschlafene,
vielleicht nur Abspaltungen des Ich,

frühere Gesichter, auf einer dämmrigen Fläche.
Etwas heller, dahinter, das Meer, ganz flach,
dunkel. Morgengrauen, Aufwachen.
Irgendwann Züngeln, Knattern, Qualm, ein Feuer.

Wie es brennt, wie Benzin ums Auto leckt,
ein Streichholz fliegt, wie Blechteile fliegen.
Wie man lacht, einander in die Wangen kneifend,
auf die Schultern klopfend vor dem Brennen.

Dunkler Rauch vor dem mondhellen Prospekt.
Auto am Meer abgefackelt, Täter, die lachen,
nun allein und klein dastehn, mir innigst
ans Herz gehn, mich drangsalieren.

Wie sie nicht mehr auftauchen. Wie es mich
anstrengt, daran zu denken, es könnte vorbei sein.
Wie ich lächle, weil ich glaubte, das alles
wäre ganz leicht wiederzubeleben, wenn ich

nur daran dächte. Wie ich über die Folgen nachsinne:
zu Fuß durch die kotige schrundige Gegend. Oder
einfach auf irgendwelche Schiffe hoffen,
am Küstenstrich, die Stadt verfluchend, keine Rückkehr

im Kopf. Sich vollaufen lassen, aneinander-
gekuschelt warten: bis die Sonne aufgeht,
wieder untergeht. Diese Lebenslakonie, die nicht fragt.
Warum ich nur diese Szene aufgeklaubt hab.

Wohin ich sie mitnehm. Und wie ich sie je
wieder loswerde. Genau über der linken
Augenbraue der Schmerz. Kein einziger Schnitt hier,
kein Piercing, nur einzelne Büschel, Resthaare

(Donnerstag, 6.1.2000, 8.30 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Mittwoch, 11. Januar 2012

O-16 FINDIGES PORTRÄT

1

vor dem eingeschalteten Fernseher leugnet er
fernzusehen. Sagt immer wieder: Entzückend,
an den unpassendsten Stellen: Entzückend: Arbeit,
Zeit, Reise – alles: Entzückend. Schwärmt
in den höchsten Tönen von einem angeblich
altösterreichischen Beamten, schon in Pension,
den er bei einem Eßkurs aufgegabelt hat

2

er plädiert für einen Zugang zum Meer:
denn ohne solchen sitzt ein Land am Trockenen,
vernachlässigt die Ressourcen, schmählichst.
Fuhr bisher jedes Wochenende auf sein ungarisches
Weingut, fährt auch jetzt, zum dritten Mal,
zur Weinlese. Macht einen Weinkurs. Liest
immer im Restaurantführer nach, ißt sich der Reihe
nach durch die allerbesten Lokale, hier und dort

3

die Stempeldrucker, in den Ex-Ostblockländern,
alle ehemalige Judokas – von denen schwärmt er.
Der beste Freund: ein Stempeldrucker,
auch sein Brautführer bei der Hochzeit
in Las Vegas. Da trug er einen Steireranzug, sie
ein mitgebrachtes Schwarzes. Er unterscheidet
streng zwischen der permission und dem gemeinsamen
Herabsteigen auf der Treppe im billigen Superhotel.
Alle klatschten, schenkten ihnen Karten und Stofftiere.
Also er, der Mann mit den vielen Pussybären,
die am rosaroten Wasserbett saßen, keinen Laut
von sich gebend. Und eine Unzahl Amerikaner,
mit ihrem praktischen, heiteren Gemüt - entzückend

4

jetzt in der Firma des Vaters nistet er im Büro,
unter dem geretteten Baum, der sich ungeniert
ausbreitet, seine Blätter auch durch die Lehnen
der geerbten Stühle streckt, den Biedermeiertisch
überschattend. Darauf eine namenlose Kugelpflanze,
deren Schönheit zuletzt sehr verblaßt ist.
Draußen Messinghandläufe, kreuz und quer,
marmorierte Treppen, Decken aus spiegelnden
Glasquadraten, Kirschholztüren – soll er sie
wirklich täglich alle öffnen, und wenn ja: für wen?

5

gern residiert er in der Kleinwohnung im Palais
mitten in der Innenstadt: wo alles nächstliegend
gemütlich ist, so mühelos zwischen Barock und
Zeitgenossenschaft hin- und herschwebend, zwischen
dem Hier- und Dort-Leben, und dort heißt auch Neuguinea,
zum Beispiel, begleitet von einem Hobbyethnologen,
der ihm Verhaltensregeln zuflüstert: Kein Geld, nur Ware!
So tauscht er Steinwerkzeuge gegen T-Shirts,
und hält sich im Hintergrund, wenn die Italiener
mit ihren Brieftaschen schamlos protzen

6

trotzdem: seine größte Liebe gilt Rom, der Kirche, dem Vatikan.
Sollen doch die Toten anrennen dagegen, die Verbrannten,
die Gehängten, Eingegrabenen, Verhungerten,
die In-die-Luft-Gesprengten! Nicht die Körper
überleben, die Kraft der Kultur, die sich als Rhizom
ausbreitet unter der Erde und nach oben durchsticht,
als Ganzes völlig unsichtbar, sich vollsaugt mit Luft,
Lust, Leben, ihn jederzeit durchdringt vom Fuß bis zum Kopf

(Sonntag, 10.09.2000, 11.00)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Samstag, 7. Januar 2012

0086 - FREAKS

1

immer
wenn du vom tisch
aufstehst oder abends
vom fernseher weggehst
oder einfach die tür
zu deinem zimmer zuschnappen läßt schmerzt
es mich sehr

2

aus dem stillen abend
in den stillen morgen
irgendwas nehmen
und sichs in den mund stopfen
eine unglaubliche vielfalt
von erniedrigungen

3

der schmerz
kommt hinter der verschlossenen tür
hervor der schmerz
ist der staub am teppich am boden die abgekratzten wände der schmerz
ist die unordnung die hier herrscht
die verwechslung von tages und jahreszeiten notgedrungen
die notgedrungene unmenschlichkeit
eine unbändige art
von zärtlichkeit die nie
herauskann

4

du sagst
horror siehst
horror
und horror springt
zwischen deinen beinen hervor
und im spiegel ist nichts
zu sehn nur ein gewaschenes
rasiertes gesicht
das sich nicht
erkennt


5

freaks
das heißt mißgeburten menschen wie du
und ich ohne beine ohne hände
oder beides mannweiber
weibmänner siamesische
zwillinge stotterer spindel- und vogelmenschen kleinhirnige

(12.1.1971)

Donnerstag, 5. Januar 2012

0085 - DAS POETISCHE MATERIAL

eine polaroidkamera
an die schläfe gesetzt: Peter Lorre
prackt mir sein M auf den rücken: ich
reiße den mund auf zu hoher stimme: ich
anerkenne diese versammlung nicht: es sind
zwar vielleicht könner aber keine
psychopathen die nicht anders können nicht
aus ihrer haut rauskönnen: es
packt sie nicht wies mich packt wenns
mich packt: ich liebe weder mein leben noch
die leben anderer: zum beispiel der kleinen
mädchen denen ich süßigkeiten
in den mund stopfe unentwegt: meine
süßen wörter in die ohren meine süßesten
süßigkeiten: ich schreie ich will
raus aus meiner billigen blutigen
maske aber da fällt alles zusammen: plötzlich
ist der dunstige saal eine börse wo sichs
primär um geld handelt: und nichts ist mir
anzukennen unter meiner spießbürgerhaut: ich
spür nur ein kleines prickeln münzen
die klimpern man muß sie einwickeln in papier
oder stoff oder in bonbonpapier und
in die tasche damit: zum warmen langen messer
mit dem ich die rotstifte spitze: für die
briefe an presse und polizei:
für die briefe an meine lieben lieben
toten kleinen lieben toten: irgendwo unter der erde im himmel:
das poetische material ist ein material zur arbeit egal
ob an sich selbst oder am material

(4.1.1971)

Dienstag, 3. Januar 2012

0084 - ASPHALTSPALT

asphaltspalt: die ganze anarchie
tut sich auf das gekröse die wunden
verwunderte ornamentik selbstvergessene
banalität das überraschende matriarchat
die idealen zitate und taten
einer generation von nackten: kot kot kot
als einziges überlebenselexier

asphaltspalt: auf den bäumen
hängen die kleider und unter
diesem kunststofflaub bohren
sich buben ins trockene moos
wälzen sich mädchen im feuchten
gras in einer landschaft
aus ziviliation abfall kot

asphaltspalt: milch und honig
steigt in die knochen
aus den mündern kommt schaum
der reinigt und erlöst
und erstickt die erinnerung
an eine unfaßbare vergangenheit

(4.1.1971)

Montag, 2. Januar 2012

0083 - ZU GEIST

so fett und schwere/gewichtslos aber mit hintersinn
und im vordergrund nagelflügeldecken dunkelrot
wandelndes vorurteil ungeeicht gereicht
kein komparativ ein superlativ eine hydra:

schwarzer schnee schwarzes licht
der kontrast des unbeschreibbaren
hin und herpendelnd nebeneinandergesetzt
aneinandergereiht gesichtslos gesichter:

sprühende goldfischschauder feuchte schwämmchen
freundschaftliche körperteile
die im auftauchen umkippen
stromkreise die aneinander vorbeifließen:

gespeicherte puppenhaftigkeit
entlarvung von selbst durch erweiterung zu geist
ehrgeiz zu geist ehrgeiz zu geist:
ich schreib mir hier einfach tachismen

ins neue jahr bleigießereien serpentinenrecht
einen blinden hund mit ernstem haar
einen sehenden hund mit bartgeruch
mit steifer haut um wachsweiches gebein

(3.1.1971)

Samstag, 31. Dezember 2011

0082 NEUJAHRSGEDICHT

dieser kühle verschlossene
gegenstand bin ich:
was ich lesen werde
stimuliert mich schon jetzt:
antike mittelalter moderne
gehen ineinander auf: angst
als antrieb des schreibenden

außer mir werden alle
ermordet: ein hermaphrodit
erscheint im traum und hoffentlich
auch in wahr und wirklichkeit:
er strippt sich von buch zu buch

die neue natürlichkeit
ist ein topos wie vertane
stunde: gute reisen
sind grausam: beharrliche
untreue als prinzip
von rhythmus und komposition

(5.1.1971)

Donnerstag, 29. Dezember 2011

D-17 FAMILIENMUSEUM

kein Hausschuh paßt. Es zieht vom Aufgang her.
Hinter jeder Tür Beete brennender Kerzen, Signale
der Offenheit für alles, was da kommen wird oder muß.

Frage, die du nicht aussprichst: Wo ist der Sarg, Sarkophag,
die Gruft für die ganze Familie? Hinaufgeschleift
über sechzehn steinernen Stufen, die Sohlen

jäh verkürzt auf das Maß eines Pubertierenden:
hin vor das einstige Ehebett, noch immer in Weiß, weißer Moder
aus den Ritzen, auch aus dem blitzblanken Kastenverbau.

Kein Gedanke mehr an den Brandherd Keller
dessen unverputzte Wände, die dort unten eingesperrten Öltanks,
an die Zeit, als du dieses Haus von allen Seiten her unterwühlt hast.

Du wärst vielleicht noch immer gern dieses Kind,
piepsend und grunzend, auf dem weißen Fell, im Bann
der Elternanbetung. Aber jetzt sitzt du da,

der einstige Zappler, ganz ruhig, kannst messenden Blicks
von dir sprechen, deinem fernen, noch unerreichten
Wunschland, kannst Sternbilder projizieren,

einen riesengroßen Flackermond, ihm Protuberanzen
andichten als ersehnte Heimstätte;
und das Ewige Feuer nur streifen, nebenbei,

aus dem sich das Chaos kreißt, Früh- und Spätzeit.
Es muß schnell anders werden. Irgend etwas soll auf jeden Fall
passieren, auch schleichend, auf Umwegen:

Bankenzusammenbruch, Fehler in Chips,
die Kettenreaktionen auslösen, Reaktorunsicherheit imitieren.
Und sicher kein nächstes Jahr im Familieschoß.

Es gibt Ziele, unaussprechliche, und schnell heruntergerasselte.
Es gibt Geborgenheit, die nie analysiert werden darf.
Keine Teile, nur immer das Ganze,

die Wesenheit, Ahnung hinter dem Minimalwissen,
das auch dieses unterhöhlt und auffrißt.
Es gibt und bleibt das Haus, und das Dach

das nicht so bald abheben wird, eine Frau darunter,
die sich an Junges andockt, ihre Arznei gegen Einsamkeit.
Es gibt und bleibt das Museum,

das viel Unausgesprochenes ausspricht, von Dauer glänzt.
Es kann sich hier selbst nicht mehr fortpflanzen,
erstickt irgendwann, in den Möbeln, unterm Teppich

(Dienstag, 28.12.1999, 6.12)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

Dienstag, 27. Dezember 2011

D-16 WÄRE ICH DRAUSSEN

wäre ich draußen, wäre es
sternklar, sähe ich den größten Mond
seit langem. Sähe ich womöglich
die Terrasse eines Palastes, nicht

den wüsten Vordergarten, die Weihnachts-
maskerade der Häuserzeilen,
zwergenhafte Bauwerke, nutzlos
aufeinandergestapelt. Wäre ich

draußen, würde ich das Kind sein,
das am Kuheuter saugt anstelle des
Kälbleins; wäre in mir trotziges Lutschen
und Nuckeln. Wäre ich draußen,

hörte ich nicht die immergleiche Tonleiter:
als übte jemand jede Nacht einen
Dauerton, aus dem sich Heimat
abspaltet und sofort wieder verflüchtigt

(1999)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

Mittwoch, 21. Dezember 2011

EI-09 HONIGSEIM

im Schloß, in einem Zimmer voller Honigseim
an den Wänden: Seim rann runter, raus aus den Fugen
der Intarsien, runter aufs Parkett. Ich lag auf dem Bett,

drehte mich, ließ alles, mich ergebend, honiggelb aufleuchten,
Rankenmuster, die sich tapfer schlugen mit Parkettstäben:
gradlinig schräg gegen wuchernd Verschlungenes;

Ornament gegen die Gier nach Rechteck, Quadrat
und rechte Lebensführung. So einer der Träume
in diesem Zimmer, dem Holzkabinett,

Honigseim noch nicht entdeckt. Vier Bücher,
alle nebeneinander aufgeschlagen auf dem Nachbarbett,
noch unberührt, während aus dem Wetterleuchten

Bienentod aufgetaucht war, wunderbare Bienenerrettung.
Auch das Bett Tracey Emins, trotz kolportierter Brandzerstörung.
Neu eingestickte Namen ihrer 1000 Liebhaber,

schöner als das Original; überall schimmernde Bienenflügel
und –rücken, Lippenblütler. Bienenerfahrung – ihr das
nicht zugesprochen, doch Drogenzerrüttung, Pendeln zwischen Entzug

und Zusammenbruch. Neben dem noch frischen Liegebett
das für sie errichtete Zelt mit der honiggetränkten Matratze.
Honiggesicht, Mund voller Seim; auch Honighand,

die mit ihren Nägeln jedes Papier zerfetzt, Niemandshand.
Ich wachte auf, anagrammatisch gestimmt, mit einem neuen Wort,
ohne auf eine Lösung zu stoßen für Süße, Sünde, Sühne

(29.7.2011)

Montag, 19. Dezember 2011

EU-15 MOMENT AN DER THEMSE (ST. SAVIOUS DOCK)

dünne knirschende Alu-Brücke,
auf der ich dreimal hin- und herging,
um bei Ebbe im Schlamm
der Themse zu wühlen.

Sessel, der besudelt fast versank,
vor der Leiter ins Leere.
Blumige Häuser, nicht das Neueste, fatal
sozial. Daneben die Spekulation:

Butler’s Wharf, Lagerhaus
mit Tower Bridge-Blick,
nur noch ein abgefucktes Gebäude
vom Cherry Gardens Pier aus geknickte

vielfenstrige Dunkelmänner-Wand.
Einsamer junger Mann
auf dem einzigen Hausboot,
inmitten von Grünpflanzen, Hanf: er winkt.

Stieg hinab zu moosigen Steinen,
ins Glitschige, am Wasser grautrocken.
Und von oben überraschend
Pakistanigesichter, einzeln

die Treppe herabkollernd,
mit Frauen- und Kinderlachen verbrämt.
Würdig grüßender Mann dahinter
Marionette des bronzenen Doktors

der die Katze vor ihm fixiert, begehrlich,
dem rätselhaft häßlichen Mädchen
mit der abgegriffen glänzenden Linken
unbemerkt drohend.

Im Gehen und Wenden
der grünglasige Rohbau gegenüber:
Brücke, Himmel, schräg aufgetürmte
versetzte auseinandergedrückte Gebäude.

Auf und ab, auf und ab.
Auch wegen der Fluß-, eigentlich Meeresenergie
über den Strom.
Verletzt, leer, ohne Profit

keine freudige Rückkehr.
Hinter mir der Spalt, fast unsichtbar
inmitten der Brücke,
die sich irgendwann öffnen wird -

bei der Ankunft des nächsten
Hochseeschiffes vom Kanal her,
der kippenden Bugwelle,
der Windhose, die ihr vorauseilt

(Sonntag, 6.8.2000, 23.25 Uhr, London)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

Samstag, 17. Dezember 2011

EU-14 SAMSTAGNACHT (THE CUT)

bei Waterloo suchten wir The Cut,
fragten in Secondhandshops,
eilten weiter vorbei am Old Vic.
Schon um 16 Uhr

abgesperrte Straße mit Leinwänden,
Boxen unter Verschluß,
Securities vom Land, sonst nichts.
Fuhren zurück bis zum Oxford Circus.

Da stiegst du aus,
liefst hinter der 10 her.
Ich blieb sitzen, oben.
Pause für den Fahrer, Licht aus.

Ich mußte zur nächsten Haltestelle,
hatte mir 176 eingeprägt,
sagte 176, 176,
bei jedem Gesicht 1-7-6, 1-7-6.

Fuhr allein zurück,
dachte an dich, dein Zimmer,
mein leeres Zimmer daneben,
mein Fenster davor, die lautlosen Kräne.

Auf der Bühne Sängerinnen, kein Sänger:
rechts mit dem Hut in der Stirn,
aufgeschlagenem Mantel,
die Jackson-Doppelgängerin -

sang nicht, stand nur,
sog meinen Blick in sich hinein,
verschluckte sich nicht.
War gleich die Siegerin,

die mich schwanken ließ,
mir die Luft wegnahm
und alle Phantasien in einer glühenden Kugel
inmitten des Hirns zusammenpreßte.

Dann die Springprozession der Maskierten:
die Jungen auf Stelzen,
die Älteren im Trippelschritt, im Takt,
der sie aus Riesenlautsprechern

zu beiden Seiten vorantrieb:
immer ein Stück Straße,
gleich eine Weile ein Platz,
auf dem sie hin- und herzuckten.

Und immer diese wehe wühlende Melodie,
und dahinter das Gezirpe,
das verdächtig anschwoll
und schnell wieder fast erstarb.

Jonglierer ihre Keulen schleudernd –
Rollstuhlfahrer fingen sie auf
mit den Zähnen.
Tänzelten auf Rädern,

erhoben die Hände,
hinter Sonnenbrillen die Augen.
Mein Atem löste sich ab,
warf sich zu Boden,

schlich sich unter Schuhen weiter,
Hosenbeinen, Röcken,
bis ihn jeder einatmen konnte.
Als fremder kam er zurück:

atmete schwarzen Atem,
braunen, anderen weißen.
Ich regulierte die Musik
von den Balkonen herab,

saugte alles auf.
Ließ die Gospelsängerinnen aufleuchten
und wieder verschwinden.
Ungeniert ging ich hin und her,

ließ mich anstarren.
Niemand verletzte mich.
Niemand nahm mich mit.
Niemand verriet mir seinen Namen

(Sonntag, 15.07.2001, 8.50 Uhr, London)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

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