Freitag, 27. Mai 2011

0066 (7,8) - JUBLILÄUMSWARTE

7

von der basis hinaufzublicken, von der vorgeschobenen basis hinabzublicken auf die normale basis ohne schwindelgefühl, der traum von den menschenfressern, denen zu entkommen sei, dem ganzen menschenfresser-menschenfresserwärter-system, das morgens besonders hautnah zu spüren sei, sagt die begleiterin, in einem so schönen land bei einer so schönen stimmung. die hubschrauber seien zu sehen, ihr einsatz auf jeden fall begrüßenswert, sagt der student. die paradiesvögel in den verschiedensten spielarten, ihr flügelschlagen im traum, das zerbrechen der schallplatten, womöglich mit den lieblingsschlagern der eltern, bei deren musik sie sich zu lieben begonnen haben könnten, ein racheakt gegen den beherrschenden vater, gegen den die mutter sozusagen überwölbenden vater (diesmal umgekehrt), gegen seine, wie sie es damals empfunden habe, klebrige patzige gefühlshaftigkeit, wenn er die mutter bei der tür sozusagen gleich ansprang, sie sozusagen bei der tür gleich niederstreckte, ihre müdigkeit ausnützend, während die sich stets gefrotzelt habe fühlen müssen, daß ihr gesicht, ihre gesichtszüge, die sich brennend nach seinem bart gesehnt haben, nur von solchen eifersuchtswallungen geprägt worden seien, ihre eifersuchtsmaske, die nicht mehr runtergeht, sie könne das so herbeigesehnte gefühl des triumphes über ihre mutter jederzeit rekonstruieren, es fehlten ihr aber anhaltspunkte für einen wirklichen triumph, sagt die begleiterin, es habe nur brennende wangen, brennende arschbacken gegeben, folgen von trotzreaktionen, sie habe das dreckige, das zwiespältige der tätigkeit der hand des vaters wohl gespürt, diese züchtigungen seien sozusagen kleben geblieben, sagt die begleiterin. der einsatz der hubschrauber bei diesen witterungsverhältnissen sei jedenfalls begrüßenswert, sagt der student

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oben angekommen fällt ihnen nichts mehr ein, sie blättern sozusagen im tagebuch um, eine neue seite, ein neuer tag hat zu erscheinen. bei aller schönheit könne sie das brennen der wangen, ohren nicht loswerden, es sei eine art von lebensscham, aber auch die folge der züchtigungen des windes, sagt die begleiterin, windzüchtigungen. man sei dem wind hier völlig ausgeliefert, sagt der student. die neue seite sei jedenfalls eine weiße, mit noch wenigen angeschwärzten stellen. man könne jedenfalls etwas lesen, was zu ereignen gar keine zeit mehr sein werde, jedenfalls nicht von ihrer zeit. man sei dem eigenen haarschwall hier völlig ausgeliefert, sagt der student, bei allem verständnis für die emporgehobene basis, gehobene position. oben angekommen fällt ihnen nicht mehr ein

(mittwoch, 4. bis sonntag, 8.3.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 28)

Donnerstag, 26. Mai 2011

0066 (5,6) - JUBLILÄUMSWARTE

5

die menschenfresser werden in flaktürmen aufbewahrt. die menschenfresser sitzen hinter schloß und riegel, hinter gittern, hinter feuchten betonwänden. die menschenfresser können nur ihre eigene gefühls- und ausscheidungsluft fressen. die menschenfresser fressen menschen mit dem mund, was sie jetzt nicht können, mit den augen, ohren, mit dem hirn, den herzen, was sie jetzt jederzeit können, selbst im traum. am meisten zugerichtet seien natürlich die wärter. die merken es nicht, auch nicht ihre kinder, wenn sie ihnen zuhören, wenn ihnen die väter von ihrer arbeit erzählen. nur die kinder sind froh darüber, daß es menschenfresser gibt. ihre vorstellung, die realität ihrer vorstellung erzeuge eine solch angenehme angst, ein solch angenehmes, ja notwendiges gruseln. bis in ihre kinderzimmer könne man die menschenfresser schnarchen hören, sagen die kinder. es sei einer der gefährlichsten berufe, sagen die wärter, eine falsche bewegung, ein falscher handgriff, ein falsches wort (obwohl ihnen ja das sprechen verboten ist), ja sogar ein falscher gedanke, ein falsches gefühl in ihrer nähe könne todbringend sein. den tod brächten aber nicht die menschenfresser, die ja hinter schloß und riegel etc., sondern die vorgesetzte behörde, deren verhaltensvorschriften für wärter von menschenfressern ein so ausgeklügeltes system von verboten darstelle, daß es beinahe unmöglich sei, binnen eines jahres nicht angeklagt zu werden, ja sogar binnen kürzerer zeit. natürlich, notgedrungen gebe es begnadigungen, sogar am laufenden band, aber gerade das sei das gefährlichste: man rechne damit, man gewöhne sich daran, mit begnadigungen zu rechnen, und dann bleibt sie einmal aus. nach solchen schilderungen, sagt der student, wachse das leben der wärter und natürlich auch das leben der menschenfresser, welches eine das andere bedingt bzw. vertilgt, es wachse den wärtern ihr leben über den kopf, sie wüßten dann nicht, wo ihnen der kopf steht, jedenfalls in den augen der kinder, sagt der student, bist du auch ein kind, fragt der student seine begleiterin, natürlich bist du eins, jubiläumswarte, in den augen der kinder wachsen ihre wärterväter ins unermeßliche

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ihr weißkaltes traumland aus einer gewissen höhe zu betrachten, eine künstliche gemeinsame basis in einer gewissen höhe, eine gewisse naturgegebene luftigkeit/lustigkeit, ihr liege einiges an wendeltreppen, sie schlucke so gern beim aufstieg, sie stelle sich so gern das ohrensausen/sausen der luft während eines jähen absturzes zum beispiel von möwen vor. dann sei sie unten gestanden, habe hinaufgestarrt, habe sich dem rausch der wendeltreppe hingegeben, ihrer selbstmörderischen passion, habe schließlich den ersten fuß auf die wendeltreppe gesetzt, sagt der student, und er hinterdrein

(mittwoch, 4. bis sonntag, 8.3.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 27)

Mittwoch, 25. Mai 2011

0066 (3,4) - JUBLILÄUMSWARTE

3

eine schöne gegend, schöne stimmung, habe sie gemurmelt, sagt der student, habe sie mit blick etwa auf die straßenbeleuchtung, durch deren schein der schnee so dicht gerieselt sei, daß es aussah, als sei der schein der schnee, vibrierendes zuckendes rieselndes materialisiertes licht, als fiele dieses materiallicht trichterförmig auf sie, das sei gestern abend gewesen, habe sie gemurmelt, sagt der student, während des aufstiegs, sagt er. die straße macht hier ständig kurven, unvorhergesehenes ist vorgesehen

4

vorbei, an otto königs tierstation vorbei, sagt der student, oder sollte ich da etwas verwechseln, man habe von seinen murmeltieren gesprochen, das sei aber irgendwie bedeutungslos, er habe den ton der stimmung nicht getroffen, das erwachen der murmeltiere, schaun sie, wie kalt das noch ist, und das hier, es hochhaltend, ist schon wärmer, und dieses da am wärmsten, gleich beißt es. murmeltiere trieben ihre liebesspiele den ganzen tag lang, das habe er aber nicht getroffen, sagt der student, im gegensatz etwa zum auer- oder birkhahn, deren balz. an die paradiesvögel habe er sich leider nicht mehr erinnern können, neben dem zerbrechen, zertrampeln von schallplatten habe seine begleiterin das betrachten jedweder abbildung von paradiesvögeln in die angenehmste stimmung versetzt, als mädchen habe sie, sagt der student, in einem paradiesvogelzimmer gelebt, mit einem ständigen flügelflattern auf dem paradiesvogelbaum, wobei sie viel weniger die abbildung angezogen haben dürfte, als der name, die evokationen des namens

(mittwoch, 4. bis sonntag, 8.3.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 26)

Dienstag, 24. Mai 2011

0066 (1,2) - JUBLILÄUMSWARTE

1

das unwahrscheinliche sei größer als das wahrscheinliche, habe seine begleiterin damals gesagt, sagt der student, es werde kein zusammenkommen möglich sein, auf keiner ebene. auch dieser schnee, der alles herabdrückt, dieser patzige klebrige bedrückende schnee habe einiges verhindert. verhindert, daß der verkehr wie vor stunden fließe, daß man vom amtlichen hubschrauber aus jetzt nicht den erforderlichen verkehrsfluß, sondern eine endlose stauung ja stockung wahrnehmen könne. das gehe schon seit acht uhr morgens so, habe die zugestiegene bemerkt, jetzt um zwölf uhr mittags oder gar schon zwei uhr nachmittags, bei diesen wartezeiten spiele zeit ja erfahrungsgemäß keine oder nur eine nebensächliche rolle. so unwahrscheinlich wie eine pünktliche ankunft, so lächerlich wie diese jetzt sei ihr damals das erreichen der warte erschienen, sagt der student, sie habe, sagt er, erwiesenermaßen auf die warte gewollt, um (erwiesenermaßen) das land, die umgebung der stadt, so weit das auge reicht, weiß zu sehen, ein weißes land also, ihr weißkaltes traumland

2

mit schwierigkeiten rechnen, immer links gehen (das entgegenkommende bemerken), immer rechts fahren (den vordermann stoßen, sich am vordermann stoßen, sich ziehen lassen, oder gar überholen). trotz der gerüchte, sagt der student, daß manchmal geradezu tödliche materialfehler, daß sich etwa das profil loslösen könne, das zu denken, das profil, da genügten schon 70 kmh. mit schwierigkeiten rechnend, während des von-einem-bein-aufs-andere-steigens, während der zehengymnastik, an irgendeinem markantem punkt, wo man sich ohne riesenstrauß oder kleiderentledigung erkennen kann, daß seine begleiterin auch diesmal wie immer beharrlich jedwede auskunft über absichten, zielsetzung, motive verweigern werde, ob sie auch diesmal von ihrer geradezu tödlichen besessenheit, die aus ihr als ganzes spreche, nicht ablassen werde können, nicht abzuhalten sei, sagt der student

(mittwoch, 4. bis sonntag, 8.3.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 25)

Montag, 23. Mai 2011

O-11 ELF

Uraugenblick mit einer Zahl wie 11.
Oder 111. Oder 11.111, was nur
Tage sein können, 30 Jahre und dazu
ein halbes: schon lang vorbei. Dachte: Hälfte
des Lebens, damals. Wessen eigentlich?
Dessen, der denkt, oder dessen, der lebt?
Welches Leben? Das eines anderen,
vieler anderer? Oder ein eigenes,
zum eigenen erklärtes? Und dann dieser
9.9.1999, der nichts damit zu tun hat, nur
als Zahl zur Rückerinnerung zwingt,
ob es ein Drama wird irgendwann mittendrin,
Vorausschau auf eine sonnenfinsternis-
nahe Empfängnis. Ob da irgendwo ein Same
herausschoß, ein Haus wegschwemmte,
im Wiederaufbauschutt versacken ließ

(Dienstag, 12.06.2001, 23.10 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 24)

Sonntag, 22. Mai 2011

L-10 TOPF

der Topfwaschel im Hinterkopf,
er reibt und reibt
(und der Finger, er blutet und blutet),
ohne die schwarze Kruste
wirklich wegzukriegen.
Rieb in Abständen,
mit Schwämmen, Wascheln und Bürsten.
Der Topf, mit seinem Innentopf,
war immer am Herd gestanden,
unten Wasser, drüber Erdäpfel.
Irgendwann Gestank, Rauch
aus dem Erdgeschoß. Dort dann
geräucherte Erdäpfel, säuerlich.
Die landen im Klo,
im Mistkübel der Topf

(Mittwoch, 27.06.2001, 10.10 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 23)

Samstag, 21. Mai 2011

0065 DETONATION UND IDYLLE

1

materie: antimaterie: konglomerat: unmischbar: urmasse: urknall: urkomisch: auseinander: urgeschwindigkeit: uhrenlos: daß keine zeit war; daß keine zeit zur vernichtung war; es hätte ein gleichgewicht geherrscht. detonation und idylle. es ist ein kleiner grüner zettel, tageskarte nummer soundso, diese karte berechtigt usw. zur benützung der lesesäle usw. mit schiefem blauviolettem stempel ÖNB 5. FEB. 1970. idylle mit detonation, der student muß seinen rosa führerschein herzeigen, der mann am schalter telefoniert, in dem kissen sitzt ein mädchen, wo gesehen, durch die scheiben eines großen autohauses, vermutlich, erstaunt gesehen, unwillen, vermutlich, bei der begleiterin hervorrufemd, mit der klotür im aug, dem männchen an der klotür, den gespreizten beinen darauf, gesehen im linken augenwinkel, der mann telefoniert, daß der schaumgummi oder was sonst schon so vielen gesäßen nachgeben mußte, daß nichts zurückblieb, keine der mehr oder weniger häßlichen formen, daß es keine gesäßphysiognomie gebe, daß yoko onos film das einzige auf diesem gebiet sei, beim derzeitigen informationsstand, daß es einfach ist, hier mehrmals vorbeizugehen, nicht einfach aber, sich gegenüber hinzusetzen, hineinzugehn in dieses rondeau aus schaumgummioderwassonstbänken, und das körpergewicht einfach sprechen lassen, das alles, während der student die eine hand unter den händetrockner hält, diesmal ohne seife gewaschen, diesmal keine tasche recht hoch oben, auf der fensterbank keine halboffene tasche, diesmal: idylle

2

am telefon gesagt: einen brief geschrieben: einen brief geschrieben. den brief zur post gebracht, mit der absicht, den brief zur post zu bringen, aufgewacht, diese absicht vergessen, was alles vergessen, die lage dieses postamts, aller postämter. an wen der brief adressiert, welcher inhalt in welcher form. am telefon beschwingt gewesen, hörreize wahrgenommen, ansätze von konketterie, von verzweiflung keine spur, warum auch verzweifelt, sagte der student, alleinsein tut gut, anrufe briefe eine ungewohnte stille, zeitungen planungen ängste, eine ungewohnte stille, uhrenlos. den führerschein mit dem zettel in der linken inneren brusttasche, am rondeau vorbei, da erscheint plötzlich der makellose teint, während der student blättert, der braune punkt, blättert, auf der rechten wange, blättert, die makellosen, blättert, löckchen, lippen, ein ganzer stoß zeitungen, blättert, es ist eine beinahe verzweifelte suche, einen beinahe aussichtslose, blättert, dann das inhaltsverzeichnis am schlußblatt, blättert, immer unter dem stichwort drama, im gehorsamen bewußtsein nur dieses eine wort, blättert, das aber dann tatsächlich nirgendwo aufscheint, blättert, auch unter den scheuen seitenblicken auf die bereits gehenden, auf den fast völlig leeren saal: plötzlich hatte eine weibliche stimme schluß! geflüstert und eine männliche gleich darauf brüllend schluß! respondiert, detonation, langsamst

3

der kalte regen war auf das fenster geprasselt, prasselt noch immer, der scheibenwischer schafft es nicht, die gefährlichkeit solchen fahrens auch bei niedrigem tempo. wie oft schon erwähnt, geflissentlich eingeflochten, man sei erstaunt über die unvorhergesehenen bewußtseinsschwünde, man habe zum beispiel sehr wohl das herankommen eines fahrzeugs wahrnehmen können, nicht aber das vorbeifahren, und man habe dann vielleicht noch im rück-spiegel etwas entschwindend winziges erblickt, und dann plötzlich die frage: wo war ich während des vorbeifahrens, ist wirklich etwas vorbeigefahren, ich träume, ich habe tatsächlich geträumt. der rechte scheibenwischer müßte mit dem linken vertauscht werden, der rechte wischt besser, als fahrer braucht man links die bessere sicht. der film, den ich drehen werde, sagt der student, wird die ganze strecke umfassen, und zwar je eine hinfahrt im winter, eine rückfahrt im frühjahr usw. der film, den ich drehe, sagt der student, die kamera läuft, jeder frostaufbruch wird indirekt sichtbar sein, die zuständigen behörden werden sich nicht mehr verleugnen lassen können von untergeordneten beamten. plötzlich wird strom in die städtischen uhren fahren, und: detonation

4

ÖNB 5. FEB. 1970, materie antimaterie, ein gespräch will nicht zustande kommen. rekon-struierend: konglomerat: unmischbar: urmasse: urknall: urkomisch: auseinander. bei solchen entfernungen könne man sich kein urteil erlauben, nach so langer zeit sei alles inzwischen erfahrene, wahrscheinlich auch die erfahrensweisen, höchst verschieden. verblüfft aber doch über den gleichbleibenden stil, über die deckungsgleichheit vieler eindrücke jetzt und vor jahren. über ihr komplexes erinnerungsempfinden, was der student immer mit weiblichkeit identifizierte, über ihr komplexes leidevermögen, ihr ausharren im ungewohnten, für sie fast unerträglichen, über ihr ständiges denken an fluchtversuche, ihr gleichbleibendes wissen um die sinnlosigkeit, das eigentliche bleibe unverändert, daß man sich nicht einfach um sich herumstellen kann als einen umstand unter anderen umständen

5

die idylle sei ihr schon zuwider. der blick sei zwar anders, und die straße falle jetzt anders, was dort selten sei. straße, gehsteig, jänner, geparkte autos, fensterreihen, jänner, gewölbt verschnörkeltes haustor, wirtshaus, pelzgeschäft, jänner, der himmel nur ein streif. rekonstruierend: da habe der student, mit dem schlaf von zwei nächten aus dem norden kommend, nachdem man durch den zoo mehr gestolpert als gegangen war, durch die befremdliche stadt mehr gestolpert, in die busse straßenbahnen hinein hinaus, und die mühe, die augen offen-zuhalten, voller angst, wieder etwas liegen zu lassen, zum beispiel den fotoapparat, den ihn ein friedlicher mann mit der warnung vor weniger friedlichen, die hier in mengen gebe, überreicht, noch die kreuzungen, das überraschende umwerfende komische einer solchen hypertrophie, die kreuzung zwischen zebra und araberhengst vor sich, seinen fünften fuß, seinen penis vor augen, er habe sich also plötzlich auf einem zeitungspapier, die welt, unter einer baumkrone an einem baumstamm befunden und sei beinahe geschlafen hier am frühen nachmittag, mit dem nachgiebigen sand der wege auf den schuhen, aber mit einer unerklärlichen angst sich wieder aufgerafft, sei weitergestolpert über nachgiebige wege nach rechts und nach links, an einzelpersonen, gruppen, grüppchen vorbei, er sei schließlich allein, allein! einem zaun gegenübergestanden aus feinmaschigem draht, mit einem riesenverbotsschild darauf: ...verboten...20.000...strafe...verboten, und das schild fixierend sei er dagegen angerannt, was dahinter war in den augenwinkeln, eine riesige anlage, etwas sich drehendes, in einem hohen ton pfeifendes, jedenfalls eine beinahe unerträglicher anblick, dem er allein ausgesetzt gewesen sei. rekonstruierend: er habe die befehle an die beine nicht mehr zurückhalten können, und: detonation

6

was verdächtig an einem solchen konglomerat sei. immer unter dem stichwort drama, möglicherweise auch unter theater und drama. daß keine zeit zur vernichtung gewesen war, ein gotteswahnsinn. das inselhafte der stadt, daß man manchmal nicht atmen könne. ein solch offener himmel, ein solch reiner flugzeughimmel, eine solche verletzbarkeit des luftraums, der versorgungs- und atemwege. eine solche hitze in den lesesälen, das heizsystem scheint nur grob regulierbar zu sein, die antwort auf hohe außentemperatur scheint nur hohe innentemperatur sein zu müssen, unwille, überdruß in allen erhitzten köpfen. der student steht vor dem schalter, der mann telefoniert, in den schaumgummiodersonstwasbänken läßt sich gut suhlen. sich hinlegen, mit der erstbesten studentin liebe machen. oder doch auf teint, haartracht, körpergeruch achten, der händetrockner beginnt zu tuckern, aus dem spiegel blickt ein viel dünkleres gesicht. liebe machen, uhrenlose, das trächtige der bücherstapel demonstrieren, wie obszön bibliotheksatmosphäre ist. ich hätte ihm ins gesicht schlagen können, sagt der student, ein solches geschwätz, während mich die nadeln stechen, das neue leibchen, während mir der name beinahe entfällt, einen augenblick lang mühsamst herbeigeschafft werden muß, buchstabenpuzzle, und dann immerhin die entdeckung des indexes auf der rückseite, immerhin beschleunigte möglichkeit der suche, immerhin bewegung, und: detonation

7

was yoko ono tut, wenn sie allein mit yoko ono ist. was winckelmann tut, wenn er allein mit winckelmann ist. was doktor straka tut, wenn er allein mit doktor straka ist. was die pickelige sekretärin tut, wenn sie allein mit der pickeligen sekretärin ist. was der dicke mit dem lederkoffer tut, wenn er allein mit dem dicken mit dem lederkoffer ist. was die 1d tut, wenn sie allein mit der 1d ist. was der schulwart tut, wenn er allein mit dem schulwart ist. was die musikpädagogin tut, wenn sie allein mit der musikpädagogin ist. was diejenige, die den brief geschrieben hat, tut, wenn sie allein mit derjenigen ist, die den brief geschrieben hat. was der student tut, wenn er allein mit dem studenten ist – idylle? plötzlich ungewohnte stille, die balance haltend zwischen überdruß und aktivitätsdrang. die einzelnen zimmer plötzlich gestopft voll mit leere, mit horchen, nachhall, knacken, knistern, finsternis. furcht, die türen zu schließen, die letzte tür verschlossen, sicherheitsmaßnahmen gegen sich selbst, gegen seine eigene vervielfältigung. trotzdem zieht es, wie das blatt, das in der aufsteigenden luft flattert, beweist. zumindest eine luftbewegung, eine weitere botschaft. das unerledigte, die hypertrophen gespräche am boden nachschleifend, keine zeit zur vernichtung, ein unausdenkbarer gedanke. auf diesem stuhl läßt sich gut denken, sagt der student, dieser stuhl ist drehbar, in der höhe verstellbar, auf diesem stuhl, kein schöner, doch praktischer, nicht unbedingt der beste, mit kunststoffüberzug, läßt sich schon einiges vorbereiten, da steht ein tisch davor, da läßt sich schon einiges ausbreiten, von diesem stuhl aus läßt sich das auf diesem tisch ausgebreitete einigermaßen überblicken, an der oberfläche zumindest. der student dreht sich um, und: detonation

8

rekonstruierend: daß der artikel das gespräch hervorgerufen habe, daß das gespräch aber gar nicht stattfand. daß das gespräch über hypothesen hypothetisch stattfand. daß der artikel zu rekonstruieren sei, wo er gedruckt stehe, wo vor dem 5. FEB. 1970. jetzt, wo man weiß, daß keine zeit zur vernichtung war, kann das nicht schwer sein. diese karte berechtigt usw. zur benützung der lesesäle usw. und: detonation

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einfach hindurchgestolpert, sie schreibt, die zeit in unzählige kleine stücke zerhackt, sie schreibt, immer an das nächste geklammert, mitgezogen voller sinnloser abwehr, sie schreibt, widerwillig, trotzdem willenlos, sie schreibt, abwechselnd stumpf ergeben und schrill nervös. der student dreht sich, sein erinnerung versagt. es ist ein kleiner grüner zettel, und was drauf steht, schlagwörter, die etwas evozieren sollen. das blatt hält sich unheimlich still. und: detonation

(21.2.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 22)

Freitag, 20. Mai 2011

O-10 NICHTSTUER

Nichtstuer - heute, morgen, zwischendurch.
Magenrumor, schlechtes Wetter, nichts drängt.
Niemand ruft an. Greif nicht zum Telefon, denk nicht
an frühere Anrufe, schreib keine Mails, keine Briefe,

schweif hin und her, hin und her. Glaub einfach nicht,
daß nichts passiert. Immer passiert etwas, draußen,
irgendwo, und man könnte ja auch vor die Tür gehn.
Man muß sich nicht entscheiden, jetzt, nur die Scharniere,

die sich von selbst einstellen, zwischen den Stunden
oder Minuten, rühmen. Nichtstuender Nichtstuer –
Zehen, die knirschen, Finger, der Reihe nach aus dem Nichts,
Luftblasen vor halb geschlossenen Augen.

Brennen im Rippenbogen, am Schlüsselbein Figur,
die selbsttätig pulsiert, als Erinnerung, dazu weiterhin:
Luftblasen vor halb geschlossenen Augen! Und irgendwo
die Knochenmehlmaschine da draußen mahlt

(Montag 23.07.2001, 14.40 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 21)

Donnerstag, 19. Mai 2011

O-09 HAUS AM MEER MIT BRAUT

Haus am Meer, voller Nippsachen, Möbelresten,
in Wahrheit ein Blick auf Fotos, einen Film,
von mir gedrehte Dreibisfünfminuten, Blick
auf die Hochzeitsreise, das schäumende, dunkel
kostümierte Meer, auf die Flut, die sich von unten den Berg
hinaufdrängt, zu den winzigen Füßen der Braut hin,
die etwas jetzt schwer Erkennbares trägt, vielleicht

ein englisches Minikleid, schließlich, auf den Klippen
thronend, mit dem Ehering winkt - und rechts der Sog
des verlassenen Gemäuers, mit den Spuren der Trauer
der entkommenen Bewohner, so als ob ein Sturm
die Türen und Fenster herausgerissen hätte, alles
umgeworfen, das Dach abgedeckt, und schon
nähern sich Helikopter, alles liegt auf dem Boden,

starr, ausgesetzt dem Geräuschterror, Körper
rollen den Hügel hinunter, die Küche brennt, das Bad
trocknet aus, die Bilder zerrinnen, Haut löst sich ab,
Knochen klirren, Blut versickert, das Herz pumpt
weiter, weiter, weiter - und die Braut wächst riesengroß
aus ihrem eigenen Bauch heraus, gebiert eine Puppe
nach der andern, die ihr aufs Haar gleicht

(Freitag, 3.1.1997)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 20)

Mittwoch, 18. Mai 2011

O-08 HAARE

Haare, die schon immer da waren,
irgendwo am Körper, auch
auf der Kopfhaut, Kopfhaare –
wehendes Unglück des Jungen,
der keine Frisur zusammenbringt,
auch keinen Kopf, der entrückt.

Es ist immer ein anderer,
mit einem falschen Kopf.
Der richtige wär nicht haarformbedürftig,
sondern kahl, ein Vorbeigehender,
dessen Schädel aus jedem Blickwinkel
leuchtet, distanzierend, fast heilig,
bereit für jeden Nachtraum.

Haare – Fäden, Gleitmittel,
in den persönlichen Himmel,
alterslose, sich unbefragt erneuernde
Begleiter. Kein Blut in ihnen,
keine wahrnehmbaren Wurzeln -
parallele, genau berechnete Auswüchse
aus dem weiterhin unsichtbaren Hirn

(Mittwoch, 27.06.2001, 9.30)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 19)

Dienstag, 17. Mai 2011

0064 - AMTLICH BEHANDELT

man kann, sagte der student, doch gleich einen polizisten holen. der schaffner (die schaffnerin) in voller amtstracht, mit amtskappe amtspfeiferl amtsjacke amtshose(rock) amtszange, mit amtsmund amtsaugen amtsohren amtshoden(brüsten) amtshänden amtsfingern amtshoden(vulva) amtsfüßen amtszehen amtschuhen, der schaffner (die schaffnerin) begann zu amtieren. der student hatte die mappe unter den arm geklemmt, eine riesenmappe, völlig intransportabel, doch bemüßigt zum transport, ein geschäft, das er sich nicht entgehen lassen dürfe, hatte der vermittler dieses geschäfts gesagt, unter keinen umständen. das echo war geteilter natur gewesen, die gutachter waren dort gesessen, hatten „gut, leider“ gesagt und „leider gut, zu gut“, wobei sich das „gut“ leider dem „leider“ zu gut anglich, nicht einmal ein bedauern, vielleicht einige bedauernde laute aus ihren sückelnden mündern, bedauernswerte geschöpfe, ein bedauernswertes geschöpf, wer? er, der student, vor ihren nassen/trockenen (sückelnden) mündern (augen), gut leiden, ich kann mich gut leiden, ich konnte mich gut leiden, ich konnte sie, gut, leider. er hatte keines ihrer gesichter mehr in erinnerung. die gutachter standen auf, und gingen einer nach dem anderen hinaus, nur er blieb wie angewurzelt stehen. der student blieb wie angewurzelt stehen, oder er stürzte als erster hinaus, mit wehenden fahnen, keuchend unter der last der mappe. oder er ließ die mappe einen augenblick liegen, das heißt er hatte gegen ihren aufgeklappten flügel, den linken arm gestemmt gehabt, den zog er jetzt weg, ungeachtet des aufwirbelnden staubs, und stürzte im hinausstürzen wieder herein: es war eines seiner fundamentalen erlebnisse. ein alptraum, so eine mappe, hatte er gesagt, daß meine erinnerungskraft so versagt. kein autobus hatte angehalten, zu solchen stoßzeiten, mit einem solchen stoß zeichnungen in einer solchen mappe, mit beinahe tränen in den augen, er, mit galle im mund, mit solch einem alptraum inmitten nichtsahnender leute. wie sich die pneumatischen türen öffneten, schlossen, mit lautem paff, wie die leute mit völlig verschlossenen gesichtern völlig abwesend aneinandergepreßt, mit ihren arbeitstaschen eng aneinandergepreßt, in der schwebenden zuckelnden hüpfenden stockenden rotweißen kapsel standen, wie sich die pneumatischen türen öffneten, schlossen. der 13er ist eine unglückszahl, aber auch der 17er, den es gar nicht gibt, der 9er, der 5er, der 1er. die gutachter waren zu einem verwischten übergutachtergesicht zusammengewachsen, sie waren an dem zusammengesackt stehenden studenten vorübergehuscht, nicht er an ihnen. er sah sich jetzt unter wasser, im kalten, des donaukanals, im schmelzwasser der traun enns ybbs erlauf melk pielach traisen tulln wien, und neben ihm treibend, geradezu lustig auf und ab trudelnd, die ganze gutachtergilde, jeder einzelne wundenlos, aber mit den verschiedensten aufblähungen/fratzen, jeder auf seine weise spastisch, epileptisch, verurteilt zu epilepsie. es war eines seiner fundamentalen erlebnisse, der student, der ihm aufs haar glich, begann mitten ins gemurmel, mitten in die folge erhobener zeigefinger des vortragenden zu schreien. es war eine botschaft, die kam gurgelnd aus der linken mittleren fensterreihe, die riß die gesichter dorthin. das würgen im hals hat nachgelassen, sagte der student, mein beinahe eingeschlafener arm ist gezwungenermaßen erwacht, ich war entschlossen. plötzlich stand ich entschlossen mit leichter, aber unhandlicher mappe im pneumatischen paff, ich sprang, hangelte mich hinauf, war drinnen, war hinein zwar durch die verbotene tür, war aber drinnen und sah die wirklichen gesichter, atmete, sah, immerhin mit geöffneten augen, ganz im gegensatz zu den gutachtern, die nicht sahen oder eine andere zeit sahen, andere gesetze, für ihn gegenstandslose. die unglückszahlen begannen sich zu drehen, drängten sich in reih und glied mit gezückter karte vorbei, jeder fahrgast hat eine gültige fahrkarte vorzuweisen, eine ungültige wegzuwerfen, womöglich schon vor dem betreten des wagens oder im sack zu belassen und eine gültige karte beim schaffner (bei der schaffnerin) zu lösen. der student kam mit dem zählen nicht mit, ich bin ja gar nicht abergläubisch, sagte er, er atmete, obwohl, was er atmete, arbeitskluftluft war, arbeitslungenluft, arbeitshaarluft. das schreien verstärkte sich. es war schwer zu hören, denn der lärm, der aus der umgebung des schreiens kam, wurde lauter. doch er ging hin. er kannte den studenten nicht, der ihm aufs haar glich, war an mitleid nicht interessiert. es läßt sich leicht in den schaum um den mund blicken, wenn man vorher ein amtsgesicht bei der verkündigung einer amtsbotschaft gesehen hat. die fratze war nicht wieder zu erkennen, obwohl es ein mensch wie er war. die zuckungen waren ohne schaudern zu betrachten, wenn man vorher die verzerrung eines amtsgesichts während der verkündigung einer amtsbotschaft gesehen hat. der schmerz in den augen läßt sich leichter ertragen. die vertierung der stimme läßt sich leichter ertragen, wenn man vorher die stimme aus einem amtsgesicht gehört hat. man kann, sagte der student, doch gleich einen polizisten holen, aber niemand hörte ihn. er atmete, aber niemand hörte ihn. er war kaum wiederzuerkennen, er hatte die verbotene tür benützt, er war links hineingegangen, nichtsahnend, hatte sein geschäft verrichtet, hatte dabei keine obszönitäten an den wänden bemerkt, an sicherlich nicht frisch gestrichenen, keine schwänze und fotzen dort gesehen, nur sich selbst im spiegel, mit etwas verdunkeltem, leicht verzerrtem gesicht, nichtsahnend. und gleich die frau, erbleichend, weich werdend, die in der tür wie angegossen stehenblieb, wie ein begossener pudel mit ihren löckchen unter dem kopftuch hervor. es war gewiß die falsche tür, doch der student konnte atmen. mit einem alptraum von mappe, mit gezückter gültiger karte, durch die verbotene tür jetzt atmend. die amtstracht begann sich zu rühren, amtskappe amtspfeiferl amtsjacke amtshose(rock) amtszange, amtsmund amtsaugen amtsohren amtshoden(brüste) amtshände amtsfinger amtshoden(vulva) amtsfüße amtszehen amtschuhe begannen sich zu rühren, der schaffner (die schaffnerin) begann zu amtieren, und der rasch herbeiholte polizist mußte nicht assistieren.

(mittwoch,18.2.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 18)

Montag, 16. Mai 2011

0063 - MIT ATROPIN

atropingespritzte oder mit sonst einem gift augen
augen daß man auf einen meter entfernung (1 m e) nichts sieht das heißt doppelt
sieht mit plötzlichen katzenpupillen
du siehst die mit siehe oben gespritzen augen der greisinnen über ihren
wangentäschchen hinter ihren riesigen ringbrillen wie hinter mattglas
und wände BERÜHREN VERBOTEN
und türen BERÜHREN VERBOTEN
und hinein ins labor in die schwarze pupille hinterm vorhang: kinn aufstützen stirn
anlehnen auf den lichtpunkt blicken
es ist kein punkt ein ausgezackter lichtblick ein blickchen
und rechts und links grün und rot was gedreht wird erlaubtes verbotenes
kreiselnd
und von rechts nach links von oben nach unten buchstaben zahlen von a bis z 1 bis 9
(in 1 m e)
wir haben hier umsonst schweiß abgesondert dieser winzige raum macht in wirklichkeit
niemandem angst
sicherlich rot wird die ärztin auftauchen rot duftend im nächstbesten traum
wir werden die alten verjüngen die jungen heranreifen lassen blitzschnell
wir werden die tapeten beschmieren den boden aufreißen in die tür unsere namen
herzen einritzen
wir werden jetzt den text da problemlos lesen können all das so nahe & nächstliegende

(jänner 1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 17)

Sonntag, 15. Mai 2011

D-08 WANDBILD MIT BETT

fast ein Gesichtsloser, gleich neben mir
an der Wand , der sich vorbeugt,

um die linke Brust einer kopflosen
Frau zu küssen, beide in Grau,

mit überlappenden schwarzen Schatten.
Aus einer S-förmigen Schlange

wächst ein geschwänzter Schädel pfeifenartig,
mit einer vibrierenden blauen Kugel

oben drauf. Zwei frei schwebende Hände
begrenzen gestikulierend

eine siebeneckige gelbe Fläche,
aus der sich kakteenartige Pflanzen erheben,

dunkelrote Beeren auf den Dornen, in der Mitte,
schmelzend, ein heftig pochendes mexikanisches Herz.

Dieses Bild spielt keine Rolle mehr in den Träumen.
Ohne Widerstand lebt die Wand neben mir Tag und Nacht.

Hinter einer Scheibe aus Gleichgültigkeit
wartet sie auf einen Überschuß

an Leidenschaft für den Maler.
Er ist ihr Urheber, nur ihn liebt sie

(Mittwoch, 19.5.1999, 22 Uhr)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 16)

Samstag, 14. Mai 2011

E-02 TRESOR

mit voller Absicht dieses Fundwort: Tresor. Ist das Ohr
ein Tresor? (Tres Ohr?) Ist dieses Sirren, das so nah
der Sprache erscheint, ein Dauerton, ganz aus der atmenden
Nähe, auch aus der Sternenferne, Widerhall von Lichtjahren,
die nie aufhören würden, sich zu äußern, auch ohne offenes
Ohr? Achja, offen, ohne geöffnet zu sein, schreiben, ohne
geschrieben zu werden, sehen ohne Sicht und doch Durchblick?

Ein Frühling, der hinterm linken Ohr hinweht. Es ist auch ein Wehen
am Bildschirm, schwankende Helligkeiten inmitten schimmernder
Schwärze – schwarzer Monitor, der zweite, dritte, und darauf
ein schlaffes Blatt, das sich nie erheben würde, wenn nicht
ein Pfauchen aus mir herausbräche, künstliche, sehr gesteuerte
(beteuerte) Wut. Gestern Wut, heute keinerlei Reue. Ruhe.

Nach dem morgendlichen Aufbruch des Personals tagsüber Ruhe.
Das Personal ruht auswärts. Das Licht zuckt über die schwarze
gerahmte Fläche – nur Reflexion von Papierhaufen hinterm Rücken.
Rücken und Nacken gestreckt, steife Selbstbewahrungshaltung.
So der Schmerz (und ein solcher auch direkt hinterm Ohr) beinahe
wie ausgeschaltet, weggesperrt in ein anderes Zimmer, achja,

dort unter dem Bett, der fraglichen Wand rechts, die nie fragt,
sondern starrt voller altmexikanischer Vorausahnungen.
Jetzt Pause, auch aus dem Magen, mit herausragender Sonde
hin zum linken Ohr – wer wagt es, mir deshalb Linkshändigkeit
zuzuschreiben? Ich selbst erfand sie mir unlängst, ohne Not.
Ich sei Linkshänder gewesen, gewalttätig umgeschult.

Sah mich als Schüler, dem das Ohr zornig wuchs in der Hand
des Lehrers, der es wusch und salbte, auch Stirn, Nase und Wangen.
Zu welchem Zweck? Solch ein Lehrer kommt aus dem Tresor der Zeit,
die zugleich so unwahrscheinlich zusammengepreßt unterm Stuhl lauert.
Der Stuhl (sonst das Allerlauteste im Raum) schweigt. In der kleinsten
Bewegung die Möglichkeit, daß alles auf einmal abblättert und
ich mich hinausstürzen muß bei der Tür in die Natur voller Herzweh

(Freitag, 13.05.2011, 15:37 Uhr)

(Fundstelle: https://www.aleatorik.eu/2010/11/30/%E2%80%9Edie-ganze-zeit%E2%80%9C-wenn-ein-text-ein-tresor-ist/)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 15)

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