Freitag, 13. Mai 2011

E-01 SCHATTENBLITZ

vorhin dieses Foto des jungen Kafka, schön schwarz-weiß und
ganz zufällig, wie auch immer ein solcher Zufall zu werten ist,
der sich innerhalb eines unkalkulierbaren Gespinsts ereignet,
so auch wie jetzt wo ich – im Rahmen einer Absicht – auf
ein Gedicht stieß, dessen Äußerlichkeit – als Buchstabenpaket –
schon eine eigentümliche Verschlossenheit transportiert, die mir –
im Augenblick – nur den Zugang zu einzelnen Wörtern erlaubt,
Denken, Vogel, Luft, Schatten, mich – als allererstes –
mit Schattenblitz verquickt, einer Worterfindung/Wortfindung,
die mich auf mich selbst zurückverweist, andererseits – und das ist
vielleicht der Sinn – ganz mit dem allgemeinen Lebenserhaltenden,
das mir und allen anderen um mich herum derzeit zur Verfügung
steht, Luft, wozu ein Satz von gestern wieder auftaucht: nicht
das Herz, sondern die Lunge sei das wichtigste Organ, was ein
üblicherweise Vergessenes ist, auch von Ärzten, und – wieder
von gestern – Vogel, eine Schar Vögel am Spätnachmittagshimmel,
ein Rudel, Pulk, Zug in Formation, Krähen – Saatkrähen, Nebel-
oder Rabenkrähen – auf dem Weg zum Nachtquartier, ehe die
Sonne untergehen wird (so die gesprochene Zeile), hinter
dem Dachhorizont, der Rauchfangbatterie, unter einer
voraussichtlich – im Vergleich zu mexikanischen Sonnen-
untergängen – bizarren Wolkenformation und entsprechend
barocken Lichtstrahlenblenden, derzeit – an einem ganz
anderen Ort – ersetzt durch gleichmäßig durchwachsene
Dunkelheiten, aus denen heraus sich noch unbelaubte Zweige
ins Blickfeld schieben, womit ich leicht schließen kann, nicht
mit dem Wort Wüste, das kein Fundament für mich darstellt,
keinen Ort der Sehnsucht, keinen aus Träumen, kein Traum-
führungsziel, keine Instanz zum Wagnis von Unsichtbarkeit

(Montag, 4.4.2011, 19.58 Uhr)

(Siehe dazu das Gedicht von Daniela Danz bei Aléa Torik.)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 14)

Donnerstag, 12. Mai 2011

EU-06 MA (DERING STREET)

niemanden zwang Ma. Er blendete
mit seiner Nacktheit, den langen
Haaren, seinen Mädchenlippen.

Er kochte für alle. Nicht alle
durften mit ihm essen, nur Auserwählte,
an ausgewählten Orten.

Manche durften tun, was sie wollten,
auf einer Bühne. Dort mußten sie,
wie angekündigt, etwas mit ihm machen,

nur eine Sekunde oder noch kürzer.
Das war der Moment auf dem Foto,
den er mit seinem Lächeln ausgelöst hatte

oder einem herrischen Handzeichen.
Er konnte klatschen und diejenigen,
die ihn dabei berührten,

erstarrten zu Gelähmten,
deren Lähmung nur er lösen konnte.
Er löste sie immer.

Er tröstete sie mit seiner Mädchenhaut,
dem Mädchenmund, seinem Mädchenpenis.
Nie schaffte es jemand, ihn mit Blut zu füllen.

Nie entglitt ihm die Herrschaft über sich und die andern.
Er verteilte Augenblicke der Schönheit,
die man nicht essen konnte

(Donnerstag, 12.07.2001, 12.40 Uhr, London)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 13)

Mittwoch, 11. Mai 2011

F-09 MICHIS BLUT

Sein Blick durchs vergitterte Fenster, wie wir aussteigen;
als der Wärter die Tür öffnet, bleibt er verschwunden,
bis ich sein halbes Gesicht hinterm Ofen entdeck und er kreischend
hervorstürzt. Er weiß unsere Namen nicht mehr, will sofort
ins Auto, mit dem Auto in die Stadt, zu den Geschäften.
Vor den Auslagen hälts ihn nur kurz: Colts, Panzer,
eine Cowboyausrüstung wie die, die ihm einer verbrannt hat;
ein heftiger Schmatz durchs Glas auf die Schnauze des Bären, weiter,
weiter, trotz der Magenschmerzen vom vielen Cola
aus dem Automaten im Durchgang, runter zur Donau,
vorbei an den Schrebergartenhäuschen auf Stelzen - im Spaß
springen wir sofort ins eisige Wasser, und Michi spielt Retter,
eine Sekunde, dann packt ihn das Mitleid mit einem treibenden
Holzstück, bis ihn ein winziger Hund zurückscheucht.
Die Schläge der Pfleger, sagt er; er schlägt mit den Fäusten
zurück, sagt er; die haben vor ihm Angst, die sind krank,
alle sind sie krank. Er fällt mich an, ohne Übergang,
beißt mich in den Hals, schmust mich heftig ab. Plötzlich
hat er Hunger. Im Wirtshaus die gestohlenen Comics, Tarzan
und Donald, er blättert schnell, Analphabet, trotz der zwei Jahre
Schule, zack puff. Er entdeckt die Kellnerin, verfolgt sie,
zack puff, reißt den Fotoapparat an sich, knipst sie
ins verlegen lachende Gesicht, mehrmals. Als das Essen kommt,
ist der Appetit fast weg. Nach einigen Bissen stürzt Michi zur Tür,
raus auf den Platz, stürzt sofort wieder rein, wegen der Totenstille:
die spinnen, du spinnst. Noch im alten Jahr, sagt er,
wütet der Dinosaurier, trotz der Schlaftabletten im Mund
zertritt er Häuser, Fabriken, Autos, Menschen
auf der Flucht, und überall ist Blut auf den Straßen, Michis
Blut, vorgestern abend im Fernseher.
Und der Neue Mensch wartet, ein ganz anderer,
schön wie ein Ei, ohne irgendein Folterwerkzeug
hinterm Rücken, ohne Mordgedanken, ganz Freundschaft und Liebe,
der wartet im doppelt versperrten Keller oder
in einem der kahlen Bäume unter der Rinde,
der wartet aufs Losungswort, zack puff,
jetzt spinn aber ich. Dann tritt die Anstalt
wieder ins Blickfeld, wir sitzen im Patientencafé,
und Michi, das einzige Kind, hantiert mit der Kamera,
schleicht sich auf allen Vieren an ein zahnlos
turtelndes Paar ran, zwingt die bleiche Blonde
grinsend zum Rockhochheben, kriegt den Traktatleser
mit Bart ins Visier, den Dicken im Nadelstreif,
aber ohne Zigarre: er tut, als wär kein Film drin,
als wär Fotografieren ein Verbrechen, auch
vor der staubigen Krippe hinterm Christbaum,
vor den Disneyfiguren über der Hobelbank.
Wieder mit uns vor der grifflosen Tür, sagt er, er will
nicht weg aus dem Männerhaus, nicht weg
aus dem Zimmer mit den zehn Betten, nicht
zu den fünfzehn Michis ins Heim -
die bringt er alle gleich um am ersten Tag,
und nicht mit dem Messer: er drückt
ihnen einfach die Luft ab.

(1981)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 12)

Dienstag, 10. Mai 2011

F-08 IDYLLE MIT DROHBILD

An der Weggabelung entscheiden wir uns
für links, für uns und die Kinder, das eine
am Rücken, mit einem Mund voller Luftbläschen,
das andere hüpfend vorn oder schreiend
hinten, und wir gehen hinter den Häusern
vorbei, an den Silos in Richtung Schloß
unter unerwartet milder Sonne, und der ältere
Bub springt übers umgefallene Gatter hinein
ins bekannte Geheimnis, ins milchige Licht-
und Schattenspiel unter den Kastanien, lockt uns
zum frischumzäunten Graben, zur bemoosten,
statuenbewehrten Steinbrücke, zum Wunderbaumstumpf:
da lauern reglos Hunderte Käfer, alle
mit einem roten Kreuz am braunen Buckel.
Bettelheim, sagst du, zählt eine Unmenge
Umschreibungen für Massenmord auf, redet
von der Mitschuld der Alliierten
an der Judenvernichtung. Am Güterweg
startet ein Bauer seinen Traktor, fährt
ein Jauchefaß aufs Feld. Unser Kleinkind
sticht seinen Zeigefinger in die Luft:
im Kukuruzacker will er Kolben abbrechen,
entblättern, abnagen wie unlängst.
Und sein Bruder reißt meine Hand an sich:
ich soll ihn tragen, wie vor vier Jahren
im Hohlweg zum Sendemast am Bisamberg.
Wieder im Stadel hinterm Hof,
überfällt mich der Geruch des Strohs, der Säcke,
der verstaubten Geräte, zwingt mich
ein Drohbild zu Boden: sekundenlang
sehe ich dich und die beiden Kinder
schmelzen im bläulichen Feuer.

(1981)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 11)

(Erschienen in: Friede den Männern, Residenz Verlag, 1982)

Montag, 9. Mai 2011

0062 - TANTENTEXT

weil da oben die tante steht, weil der tisch zur seite gerückt werden muß, weil man sonst nicht dazukommt, weil der tisch staubig ist, weil das essen draufsteht. es ist zeit zum abendessen, die großmutter wartet schon. die großmutter wartet schon, denkt die tante, das bett der großmutter steht hinter dem verschlag, es ist noch ungelüftet. der arzt war schon dreimal da. weil essensreste, verdauungsreste, lebensreste und rückstände an, auf und in allen gegenständen, in allen zimmern zu bemerken sind, weil die luft schal ist, eine geruchsluft. weil im halbdunkel in der halbdunklen ecke vor dem kasten da oben auf dem staubigen, vorher schreiend abgeräumten tisch, den rock steif vom essen, vom essensdreck, von der ausgetrockneten essensfeuchtigkeit, vom rotz, vom schleim, von der schleimansammlung ihrer eigenen und der der großmutter, die unter der schweren tuchent im feuchten zimmer liegt, die mit fieber, das sie fantasieren läßt, liegt, besser fantasieren als fantasielos vegetieren, sie vegetieren, sagt der bruder bzw. sohn, sie sind wie tiere, sie ersticken im dreck, welche tiere ersticken im dreck? der bruder bzw. sohn steht in der ecke und hebt den krampen. am bett der großmutter ist nichts zu rütteln, auch nicht an ihrem erinnerungsgebäude aus ihren besten stunden, aus ihren völlig veränderten besten stunden, bei ihrem erzähl und ausschmücktalent, alles handarbeit als ehemals im schuldienst tätige, sozusagen spezialistin für stick- and strickarbeiten. es ist schwer für herrn petok, nein zu sagen. er steht in der rostigen gartentür and hält seine tasche mit den eben gekauften marillen schon lange in der hand, die faulen kommen zum vorschein. es ist diesmal eine ungewöhnlich lange geschichte. na sehn sie, sagt die großmutter, und herr petok sieht wirklich das junge mädchen und die jungen verehrer des jungen mädchens und die rettung des jungen mädchens durch den hübschesten jungen verehrer. die luft ist zu riechen, die marillen faulen, sie faulen wie eh unter je, aber herrn petoks frau macht ihrer ungehaltenheit zum letzten mal luft, bevor sie ihn suchen geht. weil die installateure den boden nicht aufreißen wollten, weil ihnen ihre frauen wie immer von der pfuschzeit etwas wegstehlen wollen, weil auch der samstag den frauen gehören soll, weil die kinder einmal aus der fernsehwahrheit entkommen sollen dürfen. die tante dreht die birne heraus, ihr bruder haut mit dem krampen so in den beton, daß alles zittert und scheppert. die birne in der einen hand der tante, der krampen in der einen hand der bruders. die frauen der installateure sind meistens ehemalige, zumindest die frau des einen. was die großmutter von der arbeit der installateure mitgekriegt hat während ihrer gürtelrose. was im alten doktorbuch steht über gürtelrose. was aber auch drinnen steht über keuschheit und onanie: daß keuschheit erlaubt und onanie verboten, und daß der sogenannte keuschheitsgürtel beiden bestens diene. was die installateure und die frauen der installateure sicherlich nur mehr höchst vage in erinnerung haben. was sie von derzeitiger lust und derzeitigem lustgewinn wissen aus erster und zweiter hand. was sich beide denken, welchen unterschied sie spüren beim berühren der flanschen, beim berühren von flachs, beim drehen der gewindeschneidemaschine, beim anblick des glühenden metalls in der schweißbrennerflamme. was die tante weiß von ihrem entlaufenen mann, während des kriegs einfach abgehauenen manns. ob sie die fotografien, falls vorhanden, manchmal nach oben dreht. gewußt habe ich natürlich nichts, sagt herr petok, ich lasse die nachbarn halt reden. die namen der nachbarn sind unbekannt. sie wohnen halt da, man sieht sie halt manchmal mit kind und einkaufstasche, man hört so manches, das kind, die einkaufstasche, das kind hat schwarze augen, die mutter blaue, die waden der mutter sind fast so dick wie das kind, die waden gehen, das kind geht, und die pralle einkaufstasche schwebt daneben schlenkernd durch die luft. was die tante den nachbarn erzählt, was von der wahrheit der tante in ihre umgebung gedrungen ist, von ihr aufgesogen worden ist, für welche farbveränderungen die tante verantwortlich ist. woher der wein stammt, der aus der unabsichtlich zertrümmerten flasche rinnt und den dann der bruder bzw. sohn aus neugier(?) kostet, wobei ihm diese kostprobe einen verdorbenen magen einbringt und eine kurze furcht vor vergiftung. der rotbraune fleck im gelbbraunen sand, das neu eingeleitete licht im keller, der frisch abgerissene verschlag, die im verschlag in einer morschen kiste gefundenen weinflaschen. man sieht einen mann, der die jugoslawischen trauben von der hecke im schrebergarten abklaubt, die trauben händisch preßt, den saft in flaschen abfüllt, den saft gären läßt. man sieht einen toten mann, der die jugoslawischen trauben von der hecke abgeklaubt hat. was die großmutter träumt, sagt sie nicht. aber in ihren erzählungen, auch in denen, die sie nicht erzählt oder die sie nur zu erzählen beginnt und nicht weiterkommt, weil dann diejenigen, die zuhören sollten, sich umdrehn und weggehn, nachdem sie sagten oder auch nur dachten: wir kennen das schon, obwohl sie es noch gar nicht kennen, jedenfalls nicht in dieser fassung, ist dieser tote neben vielen anderen toten ein besonderer toter, wohl wegen des weins. was der draht zu bedeuten hat, der hier aus dem mauerwerk ragt, warum ihn die tante um keinen preis angreifen mag. die birne ist jetzt in der fassung, die krampenspitze unter dem bretterboden. der schrei ist jetzt noch im mund der tante, der schrei noch im mund des bruders/sohns, die milchflaschen noch in der einkaufstasche, die brotwecken die semmeln das mehl der zucker das salz, was die nachbarn halt so zum kochen brauchen. die genügsamen nachbarn, die hinter zerbröckelnden mauern unter dem schadhaften dach bei schwachem licht sowohl tags als auch abends. nachts sind die nachbarn schwarz, die tante und die großmutter auch, ihre fenster und türen mit papier verpickt, packpapier, zeitungspapier, sie wollen nur ihr licht, ihre luft. es ist unser mittagessen, sagen die installateure, sie sind ganz blaß, sie halten sich ihre bäuche. wenn wir die katze erwischt hätten, die würde jetzt an der wand kleben. was ihre frauen zu solch empfindlichen mägen sagen, wie ihre mägen auf andere gerüche reagieren, auf haarspraygeruch und haarschampoogeruch und haarcremegeruch und haarfärbemittelgeruch, auf die gerüche ihrer noch nicht zimmerreinen kinder. wenn der große pappi gleich umfällt, wie soll der kleine pepi grad stehn? der lampenschirm in der einen hand der tante, der krampen in der einen hand des bruders. katzen liebt sie über alles, sagt herr petok, wobei aber zu bemerken ist, daß das hier stadtkatzen sind im gegensatz zu den landkatzen. stadtkatzen stinken, landkatzen riechen. die stadtkatzen fressen aus einer schachtel voll durchnäßter sägespäne, die neben der kellerstiege steht. die installateure gehen jeden samstag die kellerstiege mindestens zwanzigmal auf und ab. der schirm in der einen hand der tante, der krampen in der einen hand des bruders. weil die großmutter nebenan hinter der dämmplattenwand unter der feuchten tuchent mitten in der schalen luft mit ihrer gürtelrose im gesicht und dem fieber im ganzen körper. weil die tochter sich ihrer mutter erinnert, weil krankheit die eine herrisch, die andere hilflos macht. weil begründungen fehl am platz sind. weil der mann der tante, weil sie von der rente ihrer mutter, weil sie ohne mutter nicht, weil begründungen fehl am platz sind. weil die bewegung fortgeführt werden muß, weil die zeit nicht stillsteht. es ist zeit zum abendessen, die großmutter wartet schon. die zeit der großmutter ist in der zeit des herrn petok nicht mehr die zeit der großmutter und schon gar nicht in der zeit von herrn petoks frau. der arzt war schon dreimal da, aber was kann ein arzt gegen ein doktorbuch? das doktorbuch wird aufgeschlagen, und herausspricht die zeit, in der man jung war, und nur die jugend zählt. na sehn sie, sagt die großmutter, aber diesmal spricht sie mit sich, das heißt mit ihren erinnerten verehrern, mit ihrem erinnerten lebensretter in seiner hübschen jugend. nur den lärm hinter der dämmplattenwand, den kann sie sich nicht erklären. doch er klingt für sie weiter weg, als die tante befürchtet hat. noch immer die tante mit dem schirm in der einen hand, der bruder schon zum wievielten mal mit dem krampen in der einen. der boden zittert, staubt, der löschkalk staubt, der rock der tante ist voller staub, auf dem staub der tischplatte kann man die tritte der tante zählen, der schweiß auf der stirn der bruders bzw. sohns ist grau. herr petok steht in der tür und ist beinahe nicht zu sehen. als dann der schirm am boden zerbirst, bleibt die krampenspitze im soeben durchschlagenen brett stecken. als der schuft aus dem mund der tante herausgeschleudert ist, duckt sich der bruder und läßt den krampen stecken. als der mörder aus dem mund der tante herausgeschleudert ist, duckt sich herr petok. der bruder richtet sich auf und springt zum tisch. als der mörderbruder beim tisch steht, schleudert die tante ein messer aus ihrem mund. der bruder nimmt es mit seinem mund und ersticht sie. als der bruder die wirkliche hand genommen hat, als der bruder die wirkliche. na sehen sie, sagt die großmutter zu herrn petok, der gar nicht vor ihr steht, sondern eine unzahl von verehrern, die alle ein bißchen den installateuren ähnlich sehen, die marillen essend auf den bäumen im schrebergarten sitzen. na sehen sie, sagt sie, ich weiß, was ich sage

(sonntag, 8. bis dienstag, 10.2.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 10)

Sonntag, 8. Mai 2011

EU-05 WEDDING & BEAUTY (GERRARD STREET)

es war dein Geburtstag
welcher, wolltest du nicht sagen.
Ich wußte, ich durfte es nicht verraten
hier im Harbour City.
Mein Magen, sagte ich
und trank nur Cola, aß nur Reis.

Du hattest fünfzig Lippenstifte ausprobiert,
auf dem linken Oberarm.
Wir waren auch schon im Teddybärengeschäft gewesen.
Ich hatte die meisten Stofftiere berührt:
Willst du das? Oder das?

Du verneintest stets, wünschtest dir
nochmals einen Gang durch die Electric Avenue:
Brotfrüchte kaufen,
exotische Fische hin- und herwenden,
mit den Verkäufern fachsimpeln.

Ich sollte inzwischen im McDonald’s sitzen,
endlich Fotos von Schwarzen machen -
hatte ja nur so getan, als würde ich abdrücken,
dir damit den Geburtstag schon im voraus versaut.

Doch die Strafe war der Geburtstag selbst:
die Erwartung, daß er ausblieb,
daß es kein Tag werden würde,
der dem Einwickelpapier entstieg wie ein Präsent,
kein Tag voller Geschenke,
die genau deinen Wünschen entsprachen.
Ein Tag, an dem du ohne irgendeinen Wunsch aufwachtest
und bis in die Nacht hinein wunschlos durchhieltst.

Achtung!, sagte der Kellner, Aufnahme!
Achtung, Wedding & Beauty!
Er öffnete die Tür zum Studio -
Bräute, mit arglos vornüber gebeugten Köpfen.
Und rechts chinesische Zeichen,
immer kleiner im Hintergrund versinkend.

Wir verließen das Lokal in die andere Richtung.
Dort wartete das Glück in Form von kleinen Blitzen,
die du, wie ich dir prophezeit hatte,
erst bei völliger Dunkelheit im Kleiderschrank sahst –
beim langsamen Zerdrücken meiner Hustenbonbons*),
mit offenem Mund und einem Spiegel davor

*) WintOGreen Life Savers
(siehe Robert L. Wolke, Was Einstein seinem Friseur erzählte, S. 114 ff)

(Donnerstag, 12.07.2001, 12.30 Uhr, London)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 09)

Samstag, 7. Mai 2011

EU-04 DÄMMERUNG (HYDE PARK CORNER)

keine Reiter, keine Läufer: drei Frauen.
Eine lag mit dem Kopf auf dem Schoß
der anderen, beide lachten unmäßig.
Und eine Blondine in hellem Mantel,

nach vorn gebeugt vor einer Bank, und
unter ihr stocksteif ein Mann. Es schien so.
Es schien so, als ob die gelben Rosen nicht röchen.
Es schien so, als sei es kühler als gestern.

Frösteln trotz langer Ärmel. 12. Juli,
und wir hatten das Wechselspiel satt:
Wolken am Himmel, die sich in Windeseile
vor die Sonne geschoben hatten, unentwegt.

Und jetzt kalter Wind aus dem Gebüsch,
von den Bäumen, von überall her. 15 Grad.
Wir hatten keinen Unfall gesehn,
waren schon vorher nicht in die U-Bahn gestiegen:

denn zwischen Waggon und Röhre
würde kein Platz zum Durchkommen sein.
Wir wollten uns nicht vorstellen, wie der Zug
irgendwo auf der Strecke hält, und nichts rührt sich

niemand weiß etwas, und Hitze und Panik
steigt auf von allen Seiten, blitzschnell.
Jetzt im Zimmer, im 5. Stock, erhitzten wir Wasser,
füllten eine Plastikflasche, die sofort schrumpfte

und lang nicht anzufassen war. Schließlich
tranken wir aus der Leitung. Alles fühlte sich
enttäuscht, matt und unberührbar an:
Tür, Vorhang, Fensterglas, Bettdecke, Haut

(Sonntag, 6.8.2000, 22.40 Uhr, London)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 08)

Freitag, 6. Mai 2011

EU-03 SCHWARZWEISS (BRIXTON ROAD)

hinter dem Schwarzen im Bus
mit dem Mini-Handy am Ohr
die ganze Brixton Road entlang,
und noch weiter bis zum Piccadilly –

neidische Blicke auf schwarz-weiße Paare,
einander heftig umarmende Flanierer,
was hieß: verdrehte die Augen
nach draußen, lachte, gurrte: ah ah ah

wollte gleich das Vollbild, wo
ist dein Vollbild, hast du eins, schicks mir,
wann, gleich jetzt! Und: Hast du Zeit,
nie hast du Zeit, heut abend, wo bist du,

du mußt kommen, ich warte –
so viel gespielte Verachtung und Hohn
für weiße Londoner Mädchen: ah ah ah
mit versagender Stimme, die Haut

an den Fußsohlen reibend, streifte
über die Nägel, fast unhörbar, nur
sein Atem kam näher, wie er tief Luft holte,
während des Lachens zu röcheln begann,

wie ihn ein Husten aus dem tiefsten Innern
überfiel, nicht mehr zu stoppen war,
Gekeuche, schon am Boden, krumm,
um ein bißchen Liebe und Sauerstoff

(Sonntag, 6.8.2000, 22.40 Uhr, London)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 07)

Donnerstag, 5. Mai 2011

0061 - DIE ENTDECKUNG DES TEMPELS DER LIEBE (ODER: MOND LIEBE MOND)

die reste waren ausgegraben, die erde war heruntergekratzt, grundmauern, treppen, säulenbasen standen frei da, miß love stand frei da neben dem torso, love in einem kurzen kittel, womöglich blau, mit kurzem schatten, mit der rechten im kittelschlitz, der linken am faltenwurf, vom hintern des torsos weg zur kniekehle hin, mit womöglich gebräuntem körper, mit kurzem womöglich blauen schatten, neben dem strahlenden torso, kopflosen körper, mit ihrem leicht nach rechts, leicht nach vorne gebeugten kopf und den harten schatten im gesicht, mit spielbein und standbein spielerisch neben dem abgewandten torso womöglich von liebe, love neben liebe. wer einen (liebes)garten sein (liebes)eigen nennt, kann die (liebes)idee des privat(liebes)schwimmens schnell und problemlos verwirk(lieb)lichen, wenn er sich der erfahrung(sliebe) eines (liebes)spezialisten bedient. die reste waren ausgegraben, love wischte sich den schweiß von der stirn. das foto zeigte einen swimmingpool der dritten generation, die (liebes)private (liebes)welle wogt. love sagte, wie man sagt, die grundmauern, treppen, säulenbasen ergäben ein rondell von 17 metern durchmesser, und drinnen, in der mitte, stehe, wie man sagt, völlig nackt, von der arbeit schweißtriefend, von der ungewohnten sonne, voller staub unter einer staubkruste, die erst jemand abkratzen müßte, superlove vielleicht, die aber erst kommen müßte, und unter der kruste, die fest sei, beinahe steinhart, stehe, so sagt man, in ihrer gebräunten womöglich schönheit, in ihrer völlig unverletzten (intacta) willenskraft, strahlendheit neben der erscheinung ihrer entdeckung des tempels der liebe, rondells, was den beschreibungen, zeichnungen, allen verhandenen, entspräche. womöglich war der tempel tatsächlich offen, sagte love, und der jetzige torso allseits den jetzigen scherbenbringern, damaligen blumenüberreichern gänzlich offen. schwimmbecken aus plastik, kunst(liebes)stoff, edel(liebes)stahl; kieselgur(liebes) und quarzsandfilter; raumluft(liebes) und wasseraufheizgeräte; finnische sauna(liebes)anlagen; komplette schwimmhallen(liebe); schwimmbad(liebes)zubehör; reinigungs(liebes)chemikalien. als armstrong den mond betrat, stieß love auf die grundmauern, treppen, säulenbasen. als armstrong den mond betrat, schwebte hüpfte, stockte, seiltanzte, schnursprang, blubberte, trällerte, träumte, schwebte, hüpfte, stockte, seiltanzte, schnursprang, blubberte, trällerte, träumte auch love. mond liebe mond, schrie love wie unter großer anstrengung, nackt unter der kruste, schweißtriefend. scherben, mondgestein, schrie love. archäologen, futurologen, wir haben jetzt faktisch den mond ausgegraben, schrie love. und wieder waren es die amerikaner, schrie love, die eine (liebes)entwicklung vorweggenommen haben, die auch hierzu(liebes)lande hohe (liebes)wellen schlägt. mondsichel, halbmond, vollmond, wir haben den mond ständig vor augen, schrie love im meer der stille, im herz der wissenschaft. wir, schrie love, eine glatte, staubige ebene, die durch keinen uns auf erden vertrauten prozeß entstanden sein kann, schrie love, völlig erschöpft und fröhlich. für 70 gr porto können sie natürlich alles erschöpfend genau erfahren über private schwimm(liebes)anlagen. wir fanden im staub, schrie love, das glied, schrie love, eines hübschen mamornen fingers, überleben(liebes)groß

(dienstag, 20.1.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 06)

Mittwoch, 4. Mai 2011

EU-02 WEDDING

wir heiraten beide die Kunst sag
ich du als Mann ich als Frau:
dreieinig arbeiten wir abwechselnd
mit- und gegeneinander. Wir drehn uns
überraschend für alle fahren aus
der Küchenhölle hinab in den Abfalleimer
unter dem Teppich kopieren die Mauern
millimeterdick aus Bazillenmatsch.
Niemand hat mehr Macht über uns.
Unser Bau hat jetzt 27 Stockwerke
erstaunlich leicht zugängliche Wohnungen
einen Lasten- und einen Personenlift
einen stets allegorischen Hausmeister
und ist unfehlbar wie das nackte Leben

(Mittwoch, 19.7.1989, 18.15 Uhr, Brüssel)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 05)

Dienstag, 3. Mai 2011

EU-02 BEAUTY

Schönheit schmerzt doch tötet nicht
wenn ich sie einkreis mit meinen Kunst-
traumforschungen auf extraterrestrischem Gebiet

Schönheit schmerzt und tötet in einem fort
nur den nicht der sich weigert aus seinen Augenblicken
Kristalle zu formen die ihn zwölffach zeigen

Schönheit tötet den Schmerz des Selbst
das sich auslöschen will im fortwährenden Zitieren
einer Welt voller Schärfe Blut und Angst

Schönheit ist die aufgerichtete Stille
nach dem letzten Hauch der das Bild
an den Erzeuger fesselt – subtil und leer

(Dienstag, 18.7.1989,20.30 Uhr, Deal)

(Erschienen in Eurotunnel, Literaturedition Niederösterreich, 2005)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 04)

Montag, 2. Mai 2011

0060 - REIZE BRECHREIZE

reize brechreize
brechen erbrechen
als ob es etwas anderes gäbe als schläge brechschläge
schläge mit der weißen handkante weißer handkantenhände
von oben herab der magen baumelt tanzt einschnürungen
pressen kompressen
mit dem steifen kittel hebamme mit den roten wangen waden
hebamme mit der glühbirne schlägen in der hand
quälwerkzeuge sterne quader pechheißes blei zischende
zukunfthautfetzenschläge
kreuzschläge kreisschläge verharmlost quer heimtückisch
sogenannte heiße schläge mit salz mit rotem salz in die hautwunden
sogenannte umschläge unter der tuchent gegen onanie und oral
hebammen die alles wegwischen vom plötzlich geplatzten himmel
plötzlich geplatzten luftballon
erbrechen geborstener magen von borsten durchlöchert meditierte
stöße bitterst
aufstoßen sodbrennen mundwallungen erkenntnisse bitterst
zacken heißest auseinander schweflig
unmerklicher denkgeruch auch aus dem sicherheitshelm auch im
sicherheitsgurt nichtgelöst doch geschleudert
erbrochenes was in die faust geht
erbrochenes was in den schädel paßt erinnerte trinkschalen
stöße schläge immer wieder stöße schläge ruckartig schläge
auf backen breitseiten
immer wieder während aufzuckt brennen brandrot
kalt dagegen kalt stockend gestocktes erbrechen

(14.1.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 03)

Sonntag, 1. Mai 2011

0059 - IM SPIEGEL

6...5...4...3...2...1... während der vorbereitungen kam es zu keinen zwischenfällen. während die hüllen fielen, die maske heruntergerissen wurde, war alles still. unter der dicken farbe konnte zuerst nichts entdeckt werden, kein gesicht, keine larve, kein antlitz. mit viel mühe und liebe hatte sie sich zurechtgemacht, wie sie sagte, hatte farben gekauft, stoffe, die passenden farben/stoffe, hatte die vorbilder studiert, von oben nach unten von links nach rechts, hatte sie umgedreht, umgeblättert, hatte versucht, die hinterseite der vorbilder zu entziffern, mit viel mühe and liebe, wie sie sagte, und jetzt war sie vor dem spiegel gesessen mit rasch wechselnden eindrücken von sich selbst, der familie, dem haus, der gesellschaft, der radio- und fernsehgesellschaft mit den rasch wechselnden blitzen, blitzängsten, blitzaufheiterungen, blitzfreuden, blitzersatzfreuden, blitzbestätigungen usw., war gesessen mit höchst unklarem kopf (3...4...5...2...1...), etwas völlig verwischtes im spiegel sehend, angelaufen von ihrem eigenen atem, weil sie ihm zu nahe kam, kommen mußte, ohne ihn jedoch abzuwischen, ohne daran zu denken. sie hatte einen augenblick den eindruck eines dampfenden saals, sie fühlte sich sicher, sie hatte die farben sorgsam gewählt. der tänzer war ihrem gesicht zu nahe gekommen, er hatte gar keine annäherung im sinn, er begann zu sprechen. während die motoren aufheulten, wurde zum letzten mal alles überprüft. die ingenieure zitterten, obwohl sie männer waren, die frauen der ingenieure zitterten und dachten an das zittern ihrer männer. plötzlich bedeckten alle die augen, es gibt ein foto davon: sie hoben die flachen, gestreckten hände an die augenbrauen, reckten die hälse, bogen die köpfe auf den gereckten hälsen in den nacken. plötzlich blickten alle in die luft, der ganze saal, die leute auf den bänken, die leute hinter den tischen, die leute auf der tanzfläche, das fernsepublium, alle reckten die hälse, bogen die köpfe in den nacken, rissen augen und münder auf und blickten hinauf. von oben kam aber nichts herab, nur die reflektierten blitze der fotografen. die fotografen waren schnell zufrieden, waren bald mit ihren geräten auf und davon. draußen war es so kalt, daß sich bei einer bestimmten geschwindigkeit reif am vergaser bilden konnte, der natürlich die kraft des motors dementsprechend drosselte. die reflexe der reflexe der blitzlichter draußen im schnee: die zeit ist anscheinend stehengeblieben. der meister mit dem breitgedrückten schädel und der ungeputzten brille hatte das mit dem reif gesagt, der im taubenblauen mantel, während ich ihm gegenüberstand, getrennt durch eine art theke. wir sind erst umgezogen. die ordner stapelten sich auf dem boden im linken blickwinkel, neben die mädchendame mit dem interessanten akzent (und der schlechten frisur trotz der schönen haare) und der fischäugigen mit dem flotten pulli und der flotten hose, während ich den meister fast unsicher anblickte, hier im büro ihm gegenüber, alles wörter einer fachsprache, fast einer fremdsprache, obwohl bildhaft, nicht bildlich. der tänzer mit dem leicht einknickenden gang, mit seiner scheu vorm tanzen, also eigentlich nichttänzer, therapietänzer, nimmt den spruch des psychotherapeuten vorweg. jedes mal, wenn sie von dr. straka kommt, wenn sie also wieder zurückfindet in ihr verrauchtes doppelbettzimmer mit ihren kinderwünschen an den wänden, durch die kälte zurückfindet durch das kalte dunkle vorzimmer an der offenen kalten klotür vorbei, jedes mal bleibt die tür offen oder bleibt zumindest der schlüssel stecken, an dem ein ganzer schlüsselbund hängt mit seinem schlüsseltäschchen. am schlüsseltäschchen sind die schlüssel für das haus, für die wohnungstür links und die wohnungstür rechts. der tänzer hatte nichts von schlüsseln gesagt, nicht daß ich wüsste. nicht so schüchtern war der mann in nöten, von dem sie sagte: da ist ein mann plötzlich vor mir gestanden, und als der schlüssel schon im haustor steckte, aber noch nicht umgedreht war, hatte sie gesagt, hat der auch endlich von mir, meinem arm abgelassen, war beinahe zusammengesackt vor erschöpfung, erleichterung, hatte sie gesagt, also ein mann in nöten, hatte sie gesagt, im nachhinein könnte man sogar so etwas wie verständnis aufbringen, im nachhinein könnte man sogar bei irgendeiner gelegenheit seine hand, seine schmutzige, die er damals beschmutzt aus dem hosensack, hatte sie gesagt, vielleicht sogar zu ihrem tänzer oder zu ihrem verwischten gesicht im spiegel. jetzt wischte sie den hauch vom spiegel, mit der versuchung, mit den fingern, gespreizten fünf fingern strichmännchen, gleich fünf, nebeneinander zu zeichnen, in einem zug. jetzt waren die vorbereitungen also schon vorbei, der große augenblick schon vorbei, es war im augenblick leere. das gesicht des tänzers war neben dem eigenen, noch immer verwischten, nicht zu rekonstruieren. neben ihr der raum im spiegel blieb ein unendlicher, unendlich leerer spiegelraum, flachraum neben ihrem nichtgesicht, ihrer nichtlarve, ihrem nichtantlitz. auch ihre farben hatten jetzt nichts mehr zu sagen. sie nahm die verschiedenen tuben, tiegel, döschen und rückte sie in die leere des spiegels. der taubenblaue meister, die mädchendame, die fischäugige, dr. straka. dr. straka hielt die hände in den hosentaschen verborgen, es war eine spannung im raum, hatte sie gesagt, im raum zwischen mir und dr. straka und dem nichttänzer/therapietänzer, ein gespannter seh-, hör- und riechraum, tastraum zwischen uns dreien. ein einfaches dreieck a hoch 2 plus b hoch 2 ist gleich c hoch 2. ein einfacher raum, siehe-oben-raum, aber doch auch luftraum mit drei menschen als kanten, ein dreidimensionales atmendes dreieck. wie dieses dreieck in ihrem traum zu torkeln begann, wie es sich drehte, umkippte, hinundhersauste, wie es aus der form sprang, andere formen annahm, vierdimensionale und noch andere: das alles erzählte sie dr. straka. auch über den start der rakete (6), über würfelaugen (5), säulenhandkanten (4), windrosen, windsbräute (3), murmeltierstimmen (2), gespitzte ohren (1), über die weckhand (0), die sie zum aufwachen zwang (00). und was der schlüssel am morgen, wenn er noch im schloß steckt, zu bedeuten hat. und was es heißt, wenn er noch am haken hängt. und was die angst zu bedeuten hat, daß einer nachts reingreift, wie man selbst einmal reingriff am türfenster, mit großer anstrengung unter extremer armverbiegung. und schließlich leder, das leder, das weiche leder des schlüsseltäschchens. und klimpern, helles klimpern, schlüsselgeklimper in der dunklen kälte. jetzt war alles still.

(Donnerstag, 15.1.1970)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 02)

Samstag, 30. April 2011

D-07 BLUTKREISLAUF

gleich mehrere Anakondas,
eine davon ein Albino, hellgelb
mit orangeroter Zeichnung,
in den Händen dreier Uniformierter:
sie gleiten mit ihnen durch neue Terrarien
im Haus des Meeres.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -
Blut kehrt in sich selbst zurück.

Ein Mann ist Iraker,
sein Bruder Albino -
orangerote Augen und eine Brille
mit Mikroskop auf dem linken Glas.
So kann er von hellgelben Monitoren lesen,
auch von fernen Tafeln.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -
Blut kehrt in sich selbst zurück.

Die Fernsehsprecherin trägt heute
ein orangerote Kostüm,
spricht auch bei den Bildern
zu den Leichenfunden im Kosovo
mit sonor-bebendem Brustton,
erweckt Liebeswut, hellgelb.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -
Blut kehrt in sich selbst zurück.

Männer messen sich mit Ihresgleichen,
kämpfen auch gegen Frauen
mit vorschnellem Verstand, Streitlust.
Gleich mehrere hellgelbe Anakondas
schlingen sich liebestoll um die orangeroten Hälse
der hyperventilierenden Uniformierten.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -
Blut kehrt in sich selbst zurück.

Nicht weit weg die Frau des Irakers,
der eine viel Ältere heiraten wollte.
Jetzt zur Bat Mitzwa spricht sie
über Moab und Österreich,
Willkommen und Prügel für Fremde.
Die Tochter im hellgelben Kleid
entschlüpft dem Getätschel des Rabbiners
ins orangerote unterirdische Klo.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -
Blut kehrt in sich selbst zurück.

In irgendeiner ganz fernen Wohnung
wächst ein kleines Mädchen heran.
Auf ihrem Geburtsfoto im Internet
sieht man schon die hellgelbe Anakonda.
Es ist kein Geheimnis,
daß ihr Fremde täglich orangerote Briefe schreiben.

Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten -
Eklatantes baut sich rundherum auf -
Blut kehrt in sich selbst zurück.

(Samstag, 26.6.1999, 0.20 Uhr)

(Erschienen in: Das leere Kuvert, Bibliothek der Provinz, 2002)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 01)

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