Obachter

Donnerstag, 19. Mai 2011

O-09 HAUS AM MEER MIT BRAUT

Haus am Meer, voller Nippsachen, Möbelresten,
in Wahrheit ein Blick auf Fotos, einen Film,
von mir gedrehte Dreibisfünfminuten, Blick
auf die Hochzeitsreise, das schäumende, dunkel
kostümierte Meer, auf die Flut, die sich von unten den Berg
hinaufdrängt, zu den winzigen Füßen der Braut hin,
die etwas jetzt schwer Erkennbares trägt, vielleicht

ein englisches Minikleid, schließlich, auf den Klippen
thronend, mit dem Ehering winkt - und rechts der Sog
des verlassenen Gemäuers, mit den Spuren der Trauer
der entkommenen Bewohner, so als ob ein Sturm
die Türen und Fenster herausgerissen hätte, alles
umgeworfen, das Dach abgedeckt, und schon
nähern sich Helikopter, alles liegt auf dem Boden,

starr, ausgesetzt dem Geräuschterror, Körper
rollen den Hügel hinunter, die Küche brennt, das Bad
trocknet aus, die Bilder zerrinnen, Haut löst sich ab,
Knochen klirren, Blut versickert, das Herz pumpt
weiter, weiter, weiter - und die Braut wächst riesengroß
aus ihrem eigenen Bauch heraus, gebiert eine Puppe
nach der andern, die ihr aufs Haar gleicht

(Freitag, 3.1.1997)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 20)

Mittwoch, 18. Mai 2011

O-08 HAARE

Haare, die schon immer da waren,
irgendwo am Körper, auch
auf der Kopfhaut, Kopfhaare –
wehendes Unglück des Jungen,
der keine Frisur zusammenbringt,
auch keinen Kopf, der entrückt.

Es ist immer ein anderer,
mit einem falschen Kopf.
Der richtige wär nicht haarformbedürftig,
sondern kahl, ein Vorbeigehender,
dessen Schädel aus jedem Blickwinkel
leuchtet, distanzierend, fast heilig,
bereit für jeden Nachtraum.

Haare – Fäden, Gleitmittel,
in den persönlichen Himmel,
alterslose, sich unbefragt erneuernde
Begleiter. Kein Blut in ihnen,
keine wahrnehmbaren Wurzeln -
parallele, genau berechnete Auswüchse
aus dem weiterhin unsichtbaren Hirn

(Mittwoch, 27.06.2001, 9.30)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick ins Nebenzimmer: Essere etrusco 19)

Mittwoch, 27. April 2011

O-07 HERZGEDRÖHN

so neben mir her, durch und über die Jahre
außerhalb von Schuld, selbstverantwortungslos.
Bedauern, dauernd, wie schwer mir das fällt.

Ich blick auf, träum, bläh die Haut.
Wind von draußen, Uhr, die stockt.
Herzgedröhn, dicht neben dem Ohr

(Freitag, 23.06.2000, 12.30)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Donnerstag, 31. März 2011

O-06 GLÜCK

Glück, kurzes, kann jeder, auch du:
beim Wiedererkennen die Schwarze,
im Untergrund Dunkelbraune, die alles
Weiße wegoxidiert hat.

Glück: unter einem Glasdeckel
vier Äpfel. Dampf, Kardamon,
Zimt, Stechmesser, Fingerloch. Glück:
was hinter den unsichtbaren Linsen ist,

wo das erträumte Försterhaus steht,
an dem wir anstreifen, ohne es zu betreten?
Schwimmendes Eis, Unterführung, Straßenlärm,
Allee, kerzengerade, mit Hunden,

die sich überfordern mit riesigen Prügeln im Maul,
falsch angepackt. Glück: im Frauenbett
jungfräuliches Zappeln, im Takt der Erinnerung
an Eltern, die knapp hintereinander gegangenen

(So, 28.01.2001, 15.20)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 33.)

Mittwoch, 30. März 2011

O-05 - SCHATTENBLITZ

sie atzte ihn, er ließ sich atzen.
Wir saßen zu viert an einem Tisch
in der Mittagsglut im Schatten, lachten,
aßen in ansteckender Heiterkeit, voller Respekt,

Neugier, traumwandlerischer Anwesenheit.
Sie atzte ihn mit ihrem Essen, kleinen
vorgekauten Bissen wie ein Baby.
Er sperrte den Mund auf wie ein Vögelchen,

klappte ihn gleich wieder zu. Sie war bereit,
ihn weiterzuatzen. Atzen, äsen – zwei
ihnen völlig unbekannte Wörter.
Sah mich jetzt aufgespaltet in ihre Hand,

seine Lippen. Erhoffte Lust aus einem Dazwischen-
Verharren irgendwo in der Luft,
im Schattenblitz, der sich materialisiert
und auch selbst ausspricht. Sah mich

zugleich noch an der Brust meiner Mutter
ohne Bewußtsein. Es war ihre Hand,
die jetzt nach mir griff, alles und jeden
nährte und gleich wieder zerfiel

(Do, 22.06.2000, 'Bratislava)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

(Blick zum Nachbarn: Freaks Nr. 31.)

Freitag, 4. März 2011

O-04 - IM KARST

er ging, sagte er, am Telefon einfach hinaus in den Karst,
weg von der Versammlung der Dichter, hoch über Triest
zum jugoslawischen Krieg im Gespräch, er ging, sagte er,
einfach weg, wie er es so oft vorher getan hatte, hinaus

(weg- und hinausgehen und über den Karst, weil es
schön ist, in der Nacht über den Karst, und keineswegs
Flucht), doch ich erinnerte mich nicht, jemals nachts weg-
gegangen zu sein, hinaus über den Karst, nur ein spitzer

Steinberg stand plötzlich vor mir, auf der Insel Krk, auf den ich
kletterte, während unter mir die Steine wegrutschten
in der Mittagshitze, ich ganz allein auf diesem Berg
auf der Insel Krk, und ich sah mich nicht mehr, wie ich

von oben hinabblickte, sehe aber jetzt, wie der Anrufer
hinausging in die Mondesfinsternis, weiterschritt
ohne Brille, die er im Haus zurückgelassen hatte, hoch
über Triest, und wie er geradewegs weiterging, als ob er

sein Ziel schon kennen würde, obwohl er es nicht kannte,
außer eben in die grauweiße Finsternis wegzugehen
und sich selbst, seinem Impuls vertrauend, ohne mit Spalten
zu rechnen, auch nicht mit dem Glück, das ihm hold war, dort

unten in irgendeinem Felsloch, wo ihn niemand vermutet hätte,
wobei er das Glück hatte, im Hinunterrollen das ganze Leben
abzuspulen, sodaß er auf dem kleinen Plateau, das ihn
vor dem weiteren Absturz rettete, bei seiner Geburt

angelangt war, wo seine Mutter, von der er sonst nie sprach,
sich als dunkle Gestalt abhob und ihn anspie und auslachte,
zugleich mit ihrer Zunge abschleckte, das blutige Leintuch
schwenkend, den Vater von ihm wegstieß, ihn mit Fußtritten

traktierend, zuletzt auf einen Haken neben der Tür hängte,
wo er erbärmlich litt, sich der Unwürdigkeit bezichtigte,
des Verdrängens, und sie, die Mutter, um Verzeihung bat
für all die Fehltritte, die nie wieder vorkommen würden -

nie im Leben, sagte er am Telefon, hätte er seine Eltern so
klar vor sich gesehen, wäre ihm nicht jener Fehltritt passiert,
der sich absichtslos ergab, aus diesem Wegwandern hinaus
in den nächtlichen Karst, wo er sich ganz unten im Moment

völlig unbeweglich eingeklemmt zwischen Felsbrocken
in der allergrößten Sprachnot vorfand, doch dankbar
für den Gedankenblitz, der ihm zeigte, wer von den Dichtern
hoch über Triest, ihn da unten erahnend, herausholen wird

(1995)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Freitag, 25. Februar 2011

O-03 GASSENKIND

da fährt die Eisenbahn bedeutsam durch die Gegend,
nördlich von Wien, ruhiger Abend, stille Felder und Ställe -
kein Auszucken, Wiehern, Aufklatschen von Leibern,
keine Bettgewalten, keine brünstigen Dorftragödien -

bis das Gassenkind auftritt, möglicher Vorgänger,
oder irgendeines der eigenen Kinder, unerkannt in Lumpen,
italienisch, durch die Kruste auf der Haut lächelnd,
mit der aufgeklappten Kinderkappe als Klingelbeutel -

wer soll ihn füllen: der Pfarrer, die Köchin, die Ministranten?
Roter Himmel und bimmelnde Glocken; Kirchentür,
in der kein Schlüssel mehr steckt - es gibt kein Entkommen.
Unter der Kanzel fuchtelnd der Schmied; das feurige Paar,

vom Turm herabgestolpert, nimmt die Demütigung
dankbar entgegen, noch immer die Schläge der Kirchenuhr
im Ohr, das Mitschwingen mit dem Perpendikel:
Lippen brechen auf, Schwüre sprechen sich von selbst aus;

aus den Brüsten des Mädchens quillt Milch; Schwänze
zuhauf, die niemandem gehören; und Stolz, Schauder,
Ekel, aber auch Standhaftigkeit, beidseitige.
Dort oben ist ein neues Leben aufgetaucht:

weg von der Straße, heraus aus dem Staub der Kirche,
aus der Abhängigkeit von milden Gaben süßlicher Verführer,
den Vorbeterinnen oder dem gesamten Kirchenchor,
der nur selten die Töne trifft, aber Unterschlupf sucht

im Herzen Jesu, unter dem blühenden Kirschbaum,
selbst voller Blut, blutiger Gedanken und Werke.
Noch immer auf den Knien, unter den Augen der Apostel,
die von der Decke herablächeln - Würde und Brunft

(Do.12.12.1996)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Freitag, 18. Februar 2011

O-02 SCHAUSTELLER

für seine doppelte Rolle seziert er Gehirne,
bei den Proben ist er großartig:
kein Schauspieler, er spricht,
sein Atem lebt, das gesprochene Wort
belebt Hals Gaumen, Zähne und Zunge.

Und durch den geöffneten Mund
strömt selbstorganisierter Sternenstaub
in bereits höherer Ausformung –
nach so vielen Wochen im Sterbebett
inszeniert er keinen Skandal mehr,
der breitet sich ganz von selbst aus,
Sprünge von Panne zu Panne,
bis die Lichter ausgehn.

Und hinter den Gebüschen die Studenten
rufen und klopfen, übernächtig und ignorant,
Handlanger der Journaille.
Ohne Zunge kann der König nicht singen
der Bettler nicht springen, können die Philosophen
nicht miteinander reimen und ringen.
Überall lang anhaltender Beifall,
Lachkrämpfe für den Ärztenotdienst.

Auch nach der Zerlegung seines Gehirns
muß er sich auslachen, sich triumphierend verbeugen,
den Eisernen Vorhang blockieren.
Bald wird er aus einer ganz gewöhnlichen Hose
ein goldbraunes Stück hervorzaubern,
seine neue gesamteuropäische Währung

(Sonntag, 04.02.2001, 16.00 Uhr)

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

Mittwoch, 9. Februar 2011

O-01 BEIM BERNHARD-HAUS

1

er müßte jetzt hier sein, dachte ich,
mit unablässigen Sätzen im Kopf,
ohne mich zu erkennen. Müßte
mit mir hinunter zur schönen Seite
und hinter mir stehenbleiben, mich
beobachtend mit unhörbarem Lachen
bei meinen vergeblichen Versuchen,
in den Fenstern viel mehr zu sehen
als mein ruckelndes Spiegelbild
und erlöschende Landschaftsfragmente
dahinter, als wär das sein eigener,
immer wieder abgerissener Film

2

er hätte mein Schatten sein können,
unter dieser Nachmittagssonne.
Noch hörte ich seine Fernseh-Stimme
im Ohr, wollte ihn aber nicht verärgern
durch eine unzulässige Imitation.
So blieb alles meine Sache, die meines Eigensinns,
bis die Außenmauern zur Seite wichen:
nur ein Tischchen stand da,
mit schmaler Schreibmaschine drauf,
einem eingespannten leeren Blatt.
Er hatte es bewußt so zurückgelassen,
zur Warnung voreiliger Fort- oder gar Über-
schreiber. Niemand wird sich hier je
an seiner Stelle hinsetzen können,
niemand in fließende, feinstoffliche Sprache
verwandeln seinen Lungenblick

(03.11.2000)(Fr) (4.45 Uhr)

Aus gegebenem Anlass das obige Gedicht außerhalb der Chronologie eingefügt!

(Erschienen in: Obachter, Edition Korrespondenzen, 2007)

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