"Ich, der ich keineswegs zwanzig Pfirsiche auf einmal hinunterschlingen kann, nicht einmal drei oder vier, denn ich vergesse oft auf das Essen, nicht nur vor dem Weggehen, sondern auch nachmittags, weshalb ich anfallweise Heißhunger verspüre, den auch manchmal befriedige, entweder mit Mehlspeisen oder – an einem Schnellimbiß – mit Leberkässemmeln oder Käsekrainer, aber du hast das ja schon mitgekriegt, auch daß ich nichts von einer fetten russischen Festtagstorte halte, wie du sie vorige Woche mitgebracht hast...
Ich, der ich viel häufiger ins Theater gehen würde, als ich es tue; doch wenn ich es täte, würde ich keineswegs lauthals den Regisseur oder gar den Autor lästern wollen, auch nicht die Schauspieler; ich würde mich – im Theater - niemals lauthals äußern wollen, sondern immer der stumme Zuschauer bleiben, auch wenn ich einmal auf die Bühne geholt werden sollte, vielleicht um zu demonstrieren, wieviel Spontaneität und Schlagfertigkeit in einer Lehrperson steckt, worüber du ja inzwischen sehr gut Bescheid weißt...
Ich, kein Causeur wie P., auch kein Schnellredner oder –denker, doch in vielen Situationen beredt und dann wieder ein Schweiger, der große Augen macht und sich darin verkriecht, sodaß jemand, der ihn still beobachtet, vielleicht glauben könnte, er habe den Raum durch ein Fenster verlassen oder sei völlig in sich versunken, was ich ja nie wirklich bin – ich ehre die Pausen, die Ruhpunkte, und schlimmstenfalls suche ich sie mir selbst, indem ich mich in eine ferne Ecke zurückziehe, wo niemand zu sehen ist, um nichts anderes zu tun als mit geschlossenen Augen vor dieser Wand die Präsenz von Masse, deren Strahlung und Anziehungskraft zu spüren...
Ich also, und das würde ich T. gegenüber immer wieder betonen, der niemals irgendeinem Spruch, meine Zukunft betreffend, vertrauen würde, im Gegensatz zu P., der sich sein kurzes Leben lang vor dem „weißen Roß, weißen Kopf, weißen Menschen" hütete; ich, der ich heimlich und begierig zugleich auf jene Drehpunkte warte, die mir gestatten: „Schicksal!“ zu rufen, während mir bewußt ist, daß meine wichtigsten Entscheidungen – einerseits – schon vor meiner Geburt getroffen wurden, andererseits aber der lebendige Augenblick in der Auseinandersetzung und Verbindung mit einer völlig Fremden wie dir etwas unerwartet Neues zum Vorschein bringen wird...“
(14. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-30 13:00
„Wie ich mich Tatiana gegenüber darstellen will, an P. maßnehmend (Litanei)
Ich, der ich kein exzellenter Reiter bin, überhaupt keiner; aber gut zu Fuß, schlank, kräftig, biegsam und raschen Schritts...
Ich, keineswegs so klein wie er, nämlich 1,66 cm, sondern ihn deutlich – um mehr als 10 cm - überragend, wie du ja vier Tage in der Woche sehen kannst...
Ich, kein unermüdlicher Duellant, auch nicht mit Worten, Rüpeleien, Rempeleien, aber immerhin Kartenspieler, in Familienkreisen, jedoch nicht verwegen, und mit den Regeln zum Beispiel des Ringkampfs nicht vertraut, jedoch mit denen des Fußballs, doch nur ein Fußballspiel-Betrachter, kein Anhänger, einer, der die Farben schnell und nach unergründlichen Regeln wechselt, etwa in der Weise, daß ich, kaum hat das Spiel begonnen, sofort für die eine oder andere Mannschaft Partei ergreife und davon nicht mehr ablasse....
Ich, in manchen Dingen unerschrocken, doch oft auch schüchtern, zumindest nachdenklich, nachforschend und zögerlich, weshalb ich dich – was du vielleicht ähnlich erlebst – keineswegs schnell erobern will, sondern interessiert bin an der Aufrechterhaltung eines - sagen wir - blutig nagenden Gleichgewichtszustands zwischen dir, der Männererfahrenen, und mir, der Frauen um die 20, aber auch deutlich ältere, sehr schnell romantisiert...
Ich, natürlich kein „Nachfahr des abessinischen Hannibal“, keine Mischung aus Affe und Tiger, wie man P. boshaft – oder auch aus Angst - in Schule vorgehalten hat, aber auch nicht so häßlich, wie er sich selber einschätzte, sondern von einer erträglichen Attraktion auf einen gewissen Frauentyp – nicht auf die Extrovertierten, die Blenderinnen, die Musterschülerinnen, sondern auf jene, die auf eine gewisse Nachlässigkeit setzen, die aber nur intensive Aufmerksamkeit maskiert...
Ich, der noch nie seine Fingernägel lang wachsen ließ, noch nie einen mächtigen Backenbart trug (stell dir das doch einmal vor!), sondern nur – und das eher aus Überdruß oder Gleichgültigkeit der Körperpflege gegenüber – das, was über drei, vier Tage hinweg zu sehen ist, also etwas Ungestutztes, zunehmend Dunkles, das die übrige Haut noch heller leuchten läßt...
Ich, noch nie in Frack und Zylinder, weder bei einer Schulvorstellung noch bei Maskenbällen (war ich je auf einem?), nie auch im roten Kattunhemd, wohl aber in weißen oder schwarzen, nie mit Schärpe (welche, die der russischen Bahnhofsvorsteher?) oder gar Strohhut, wenngleich ich Frauen kennengelernt habe, die sich wünschten, daß ich einmal einen Borsalino trüge..."
Hier endet die Seite, mit einem Verweis auf das mit "P.2" bezeichnete Blatt, das mehrmals gefaltet, in einem Kuvert steckte, so als hätte es Ramirer Tatiana übergeben wollen.
(13. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-28 13:00
Dann folgt eine Stelle aus dessen „Dubrowskij":
„Einige Tage nach der Ankunft des Lehrers erinnerte sich Trojekurow an ihn und beschloß, ihn im Bärenzimmer zu bewirten. Er ließ ihn deshalb eines Morgens rufen und führte ihn durch dunkle Gänge. Plötzlich öffnete sich eine Seitentür, und zwei Diener stießen den Franzosen hinein und versperrten die Tür. Als der Lehrer zu sich gekommen war, erblickte er den angebundenen Bären. Das Tier begann zu schnaufen und den Gast von weitem zu beschnüffeln Plötzlich stellte er sich auf die Hinterbeine und ging auf ihn los.“
Sichtlich hat Ramirer versucht, sich ein wenig über die Struktur der russischen Sprache kundig zu machen. Dabei schrieb er die Wörter der Aussprache entsprechend in Lateinschrift und in Klammern eine wörtliche Übersetzung:
„Neskolko (Einige) dnej (Tage) spusta (nach) posle (nach) prijezda (Ankunft) utschitelja (des-Lehrers) Trojekurof (Trojekurow) fspomjil (sich-erinnerte) o (an) njom (ihn) i (und) woznamjerilsja (beschloß) ugastit (zu-bewirten) jego (ihn) v (in) mjedwjeschjej (Bären-) komnate (Zimmer); dlja (zu) sego (diesem) prizvaf (gerufen-habend) jego (ihn) odnaschdi (einmal) utrem (morgens) povjol (führte) on (er) jego (ihn) s soboju (mit-sich) tjomnimij (durch-dunkle) koridoramji (Korridore) – vdruk (plötzlich) bokovaja (Seiten-) dwer (Tür) otworilas (öffnete-sich)– dvoje (zwei) slug (Diener) ftalkjivajut (stoßen) v (in) nejo (sie) frantsuza (den-Franzosen) i (und) zapirajut (schließen) jejo (sie) na (auf) kljutsch (Schlüssel)...“
Die Pointe (falls es als eine solche gedacht war): „Der Franzose verlor keineswegs die Fassung, lief nicht weg und wartete auf den Angriff. Der Bär kam näher. Deforges holte eine kleine Pistole aus der Tasche, legte sie dem hungrigen Tier ans Ohr und drückte ab. Der Bär fiel um. Alle liefen zusammen, die Türen öffneten sich, Kirila Petrowitsch trat ein, erstaunt über den Ausgang seines Scherzes.“
Sieht das nicht danach aus, als hätte Ramirer – um Tatiana zu imponieren – geplant, einige russische Sätze aus einem klassischen Text zu analysieren und vielleicht auch auswendig zu lernen? So hätte er einen Anlaß gehabt, sie - im Umkehrschluß - näher an sich heranzuholen: er, bei dem sie ihre Deutschkenntnisse perfektionieren will, erwartet von ihr Beistand bei seinem Versuch, ihr etwas in ihrer Muttersprache aufzusagen.
Ganz unten stand noch, mit rotem Kuli geschrieben: „Mehr über Puschkin“! Und: „Umkehrschluß?“
(12. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-25 13:00
Da die meisten Blätter in meinem Fund liniert sind und Ausrißspuren aufweisen, vermute ich, daß sie aus einem A4-großen Heft oder auch Notizbuch stammen. Gestern habe ich eines davon auf den Tisch gelegt. Es ist auf beiden Seiten beschrieben, und zwar auf der Vorderseite folgendermaßen:
1. „Köstlich – auffällig, wie oft ich köstlich in Gegenwart von T. verwende. Nahezu ein Füllwort geworden, wie sozusagen. Sozusagen köstlich. Ein köstlicher Satz, ein köstlicher Augenblick, köstlich – dieses Schweigen! Sollte ich anstelle dessen wundervoll sagen? (Wundervoll, wie du meinem Blick in dich aufsaugst!) Oder herrlich (Herrlich sind alle unsere Möglichkeiten!), edel, erlesen? Gar – die frühere Bedeutung - teuer, prächtig? Hat also mit: Wieviel kostet deine Liebe? zu tun, und nicht mit: Willst du diese (meine) Liebe kosten?! Beides auf den Lippen!“
2. „Deutsch als fremde Sprache – Sekunden, in denen mir Deutsch (meine Muttersprache) fremd, ja völlig unverständlich vorgekommen ist. Stand an der Tafel, T. hatte geschrieben: Milch. Mich. Ich. Lachen. Weiß nicht mehr, was vorher war. Vielleicht nach einer Pause, vielleicht aus Spaß. Oder um jemandem die Unterschiede zwischen den Wortarten zu erklären.
M-i-l-c-h? M-i-c-h? I-c-h? L-a-c-h-e-n? Dann ratterte es durch meinen Kopf: -Milch bringt mich immer zum Lachen -Mich lacht Milch immer aus. -Aus mir lacht Milch heraus. -Lachende Milch macht mich zum Ich.“
In Ramirers Mappe befinden sich auch Notizen zu „Redewendungen, zum Beispiel: Jemandem einen Bären aufbinden, siehe Sprachlernversuch – Puschkin.“
(9. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-23 13:00
Ramirer, so wie er jetzt vor mir steht, ist das Ergebnis meiner Blicke in seine erstaunten braunen Augen, auf die Hände mit den langen Fingern, auf Mantel, Hose und Schuhe.
Er trägt einen schwarzen Mantel, um den Hals einen roten Schal, aus dessen Enden ein gekräuseltes lila Endstück. Der umrahmt seinen Kopf: schwarze, gekräuselte Haare, kurz geschnitten, mehr als ein Dreitagesbart. (Also der Schal – und das will ich gar nicht schreiben – wie ein Strick, vergleichbar der mehrfachen Schlinge, unlängst auf einem Foto im Internet, allerdings in der üblichen Strickfarbe.)
Ja, ich sehe schlecht, aus einer gewissen Entfernung bei schlechtem Licht. Manchmal trübt sich der Blick, und die Farben werden fleckig. Nicht, daß ich etwas gegen einen Aquarellblick hätte! Und nicht, daß ich mir jederzeit wünschen würde, besser zu sehen! Jetzt, da es um einen Moment der Möglichkeit des Erscheinens Ramirers geht, würde ich tatsächlich gern mehr Details erkennen wollen!
Ich besitze auch eine Fernbrille. Die zeigt – sollte Ramirer auf mein Verlangen die Hände heben (natürlich tut er das) – Kreidespuren auf den Handinnenflächen, aber auch an den Mantelärmeln. Da schauen die schwarzen Hemdärmel hervor – ebenfalls leicht kreidig. Häufiges Hantieren mit Kreide, etwas unachtsam.
Ich stelle ihn mir stehend, doch als einen während des Unterrichts ständig Herumgehenden vor. Als einen, der sich höchst ungern hinsetzt, lieber hin- und herwandert, sich lieber über seine Papiere oder von hinten über die Studenten- und Studentinnenköpfe beugt.
Wenn er schreibt, liegt er gern auf dem Sofa oder Bett. Doch um entspannt Korrekturen auf Übungsblättern vornehmen zu können, müßte er dann allerdings eine Mappe oder eine größeres Buch unterlegen.
(8. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-21 13:00
Ich will jetzt einen weiteren Traum anfügen, einen, den Ramirer selbst hatte und niederschrieb, und zwar am 4. Jänner:
„Traum, der damit endet, daß ich – mit einer weiblichen Person! – auf einen Berg steige, und auf einmal öffnet sich eine Landschaft, ein weites Tal, und darin liegt ein Dorf im Sonnenlicht. Es muß aber Winter sein, weil jemand – eben diese weibliche Person – sagt: Ich weiß nicht, ob wir es schaffen, diesen steilen Berg hinunterzufahren. Schon vorher bemerkt, daß ich weder einen Fotoapparat noch eine Videokamera mithabe. Hatte aber sofort Lust, diesen Blick auf dieses gleißende Tal aufzunehmen.
Schließlich durch eine Öffnung in einem Felsen und plötzlich am Meer. Da ein Häuschen mit einem Liegeraum. Darin bereits Menschen, Paare in Schlafsäcken auf Pritschen. Eines neben mir (und meiner Begleiterin) in einem Schlafsack. Und ich, winterlich angezogen, neben meiner Partnerin, auf dieser Pritsche, schaue durch ein großes Fenster auf das Meer hinaus: ruhiges, hellblau schimmerndes Wasser.“
Auffällt, daß Ramirer Tatiana nicht beim Namen nennt. (Er hätte ja die Gelegenheit dazu gehabt, auch wenn ihm beim Erwachen nicht klar gewesen war, ob es sich „tatsächlich“ um sie gehandelt hatte bzw. mit ihr eine eindeutige Verbindung herzustellen gewesen wäre.) Er anonymisiert sie, als wäre das eine Antwort auf die Art, wie Tatiana am Tag davor mit dem Traum von ihm umgegangen ist.
Sie wollte ihm gegenüber ihre Traumbilder nicht offenbaren. Eine Form von Koketterie? Zurückhaltung? Ihre Botschaft versteckte sie in der Andeutung, daß sie sich so intensiv mit ihm beschäftigte hatte, daß er in ihre Traumwelt eindringen konnte. Er hingegen enthüllt sie, zumindest sich selbst gegenüber. Aber es findet sich kein Hinweis, daß er Tatiana diesen Traum erzählt hat.
Ein Glücksbild! Doch vielleicht dachte er, er würde sie damit verschrecken, gar abstoßen oder zumindest in einen Konflikt bringen, den er ihr in dieser für sie sowieso sehr belastenden Situation nicht auch noch zumuten wollte.
Während die „weibliche Person“ Zweifel an der gemeinsamen Kraft äußert, den soeben bestiegenen Berg „hinunterzufahren“ (wäre es nicht naheliegend gewesen, das Hinauffahren bzw. –steigen als den anstrengenderen Teil zu betrachten?), ist er damit beschäftigt, diese Situation zu dokumentieren. Heißt das, daß er bereits an die spätere Sentimentalität denkt, die ihn durchdringen wird, wenn er sich an diesen Traum, als eine vorweggenommene, aber möglicherweise nicht ausgelebte Zukunft, erinnert?
Von oben, aus der Vogelschau, auf ein Tal, das sich sonnenbeschienen ausbreitet! Kein weiteres Wort vom Genuß, sondern die nächste automatische Erfüllung: durch eine Felsöffnung gelangt der träumende Ramirer ans Meer! Das zählt jedoch nicht, sondern das Häuschen mit Liegeraum, als sei genau das das Ziel des Aufstiegs, der Abfahrt und des Durchdringens der Felsen-Scheidewand gewesen.
Ruhen im Verborgenen, jedoch in Gesellschaft anderer Paare! Schimmern da Erfahrungen eines Bergsteigers oder –wanderers durch, der gewohnt ist, im Schlafsack zu schlafen? Ist die Gesellschaft anderer Paare erwünscht oder nur ein Vorwand, der ihm erleichtert, eine Nacht mit der „Begleiterin“ zu verbringen?
In Anoraks usw. muß man einander nicht berühren, kann aber einander nahe sein, wie diese fremden Paare. Man könnte den gemeinsamen Blick aufs Meer als die „Ruhe nach dem Sturm“ betrachten. Alle Anstrengungen, zusammen etwas zu unternehmen, führen zu einem gemeinsamen geschützten Ruhen in Gegenwart anderer, nur durch Glas von einer bewegten Außenwelt getrennt, die einem auch wie eine Filmprojektion erscheinen könnte. Woran Ramirer seine Gedächtnisschwäche gehindert hat, das nahm ihm ein anderer ab: ein weniger Vergeßlicher, ein vorsorglicher Realist.
(7. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-19 13:00
Niemand im Studentenheim wußte etwas über eine Tatiana Kornienko. Wohl gab es eine Tatiana Beranková, aber die kam aus Tschechien. Also blieb mir nur der Assistent selbst zur weiteren Beobachtung übrig. Vorher wollte ich jedoch noch seine Mappe nach Informationen über sich und seine auswegslose Liebe durchforsten.
„13. Dezember. T. hat Fotos von sich mit. Trägt einen blauen, breitkrempigen Hut zu einem dunkelblauen Kostüm. Officelook auf Russisch. Sehr süß als junge Braut in Weiß. Gerade 19. Auch der Bräutigam sehr attraktiv. Etwas pummelige Tochter. Zum Heim gebracht. Sie davon informiert, daß jemand im Haus ein Kindermädchen sucht.“
„14. Dezember. Zu Frau Schachinger und ihrer 8jährigen Tochter. Als sie hört, daß T. auch eine Tochter hat, scheint sie gleich für sie eingenommen zu sein. Ein Problem könnte werden, daß sie sich auch eine Rechtschreibkorrektur der Hausübungen wünscht. Bringe T. zum Bus. Vertrautheit, Scherzreden.“
„15. Dezember. T. von Anfang an da, lächelnd. Wieder der altmodische rosa Pulli. Gebe ihr eine Kopie des Artikels zum Thema Wirbelsäule. Zeige ihr am Rücken, wo der Trapezmuskel ist. Sagt, sie hat ein Angebot zur Betreuung einer behinderten Frau.“
„31. Dezember. Heftige sexuelle Phantasien mit T., auch wenn berechtigte Zweifel sagen, es gibt da wenig Widerhall. Illusionsmalereien, die den Altersunterschied nicht berücksichtigen. Auch nicht T.s wahre Interessen. Und schon gar nicht ihre Vorgeschichte. Von ihr einige Hinweise darauf, daß sie auch Beziehungen zu älteren Männern hatte.
Ihr täglicher E-Mail-Kontakt mit ihren Eltern stärkt sie und vermindert ihr schlechtes Gewissen. Berichtet brühwarm, was sie gerade denkt und fühlt. Sehe sie durchs Fenster, wie sie am PC sitzt und schreibt. Kann es blind, schaut mir lange in die Augen. Glaube das jedenfalls.“
„2. Jänner. Auf der Fahrt zum Restaurant deutet T. an, sie habe von mir geträumt. Ich hätte zuerst die Tafel gelöscht, dann sie. Was danach passiert war, will sie nicht sagen. Sie wird aber rot. Sie sagt, sie könne nicht lügen. Beim Essen kommt es bruchstückweise heraus: sie erklärt es mit einer Zeichnung, anhand der Positionsveränderungen von mir und ihr in diesem leeren Lehrsaal. Welche Tische wohin verrückt wurden. Dann schreibt sie einen Satz in der Kyrillika. Als ich sage, ich könnte das lesen, streicht sie ihn schnell durch.“
(6. Janner 2007)
e.a.richter - 2013-06-17 13:00
Schwierig wurde es beim Ehefähigkeitszeugnis, das russische Standesämter nicht ausstellen. In Rußland gibt es aber Reisebüros, mit deren Hilfe man bürokratische Hürden überwinden kann. So hätte Tatiana, falls sie tatsächlich einer Ehe zugeneigt war, einen Stempel in den Reisepaß zur Bestätigung dessen gekriegt, daß im Personalausweis kein Ehemann eingetragen ist. Dann hätte das hiesige russische Konsulat dieses bescheinigen müssen und erst diese Bescheinung hätte das Standesamt anerkannt.
Daß das nicht das Ende gewesen sein kann, ist klar. Denn Tatiana hätte ja zur Hochzeit einreisen müssen, wofür sie kein Touristenvisum verwenden durfte, sonst wäre das als Betrug gewertet worden. Doch das Konsulat in Moskau hätte dieselben Dokumente verlangt, die beim Standesamt lagen und erst wieder nach der Hochzeit zurückgegeben worden wären.
Wäre nicht jetzt schon der Zustand der Zermürbung auf seinem Höhepunkt angelangt gewesen, dann durch die Tatsache, daß die hiesige Ausländerbehörde ja prüfen mußte, ob es gegen die Einreise Tatianas zwecks Heirat Einwände gegeben hätte.
Ich vermute, daß die Geduld des jungen Mannes noch härter auf die Probe gestellt worden war. Denn an dem Tag, als er, wie geplant, die Ehe anmelden wollte, bekam er vom Standesbeamten keinen Termin. Warum das? Die Unterlagen sollten noch vom Oberlandesgericht begutachtet werden. Keine Angabe von Gründen. Auch keine Erklärung dafür, warum der Heiratswillige sich selbst darum kümmern mußte, daß die Papiere von der einen Behörde zur anderen gelangten.
Vielleicht geriet er auf einmal in Panik. Vielleicht kamen Tatiana Bedenken, weil sie ja noch Visa für ihre Familienmitglieder und ihre Freundinnen brauchte. Kann sein, daß sich das alles nur im Kopf des hiesigen Freundes abgespielt und sie sich schon viel früher zur illegalen und höchst unsicheren Tour entschieden hat, nämlich mit einem Studentenvisum einzureisen, um dem beidseitigen Druck – dem von ihren Eltern und ihrem Exehemann her und dem vom zukünftigen Gatten und dessen Familie – endlich zu entkommen.
Ich konnte es nicht unterlassen, die beiden Namen im Internet zu suchen. Bei Daniel Ramirer bekam ich nur die Bestätigung seiner Tätigkeit: Fachassistent, Fachbereich: Deutsch als Fremdsprache, Sprechstunden: Dienstag von 10-11 Uhr. 3. Stock / Raum 41.
Ich tat vorerst nichts. Nach ein paar Tagen rief ich dann doch im Studentenheim an und fragte nach einer Tatiana Kornienko, in der Hoffnung, sie würde noch dort wohnen. Ich wollte keinen direkten Kontakt mit ihr aufnehmen, sondern sie nur auf ihren Wegen durch die Stadt aus einer gewissen Entfernung eine Weile begleiten. So würde ich eine - wie auch immer geartete - Auseinandersetzung mit Ramirer noch einige Zeit vermeiden können.
(4. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-15 13:00
Bei Tatiana mag vielleicht dazu gekommen sein, daß sie den Aufenthalt in einem EU-Land nur als Sprungbrett für einen Studienplatz an einer Universität in den USA benützen wollte. Aber sie scheint bereits eine Fernbeziehung mit einem Österreicher oder Deutschen begonnen zu haben, nachdem sie ihn an der Universität in Moskau kennengelernt hatte. Vielleicht war das aber schiefgegangen, aufgrund der ständigen Schwierigkeiten, die ihnen die Behörden machten.
Möglicherweise haben sie einander schon vorher bereits abwechselnd besucht, alle zwei Monate jeweils zwei, drei Wochen. Wenn Tatiana kommen wollte, brauchte sie jedes Mal ein Visum, und ihr Freund mußte nachweisen, daß er für sie sorgen kann. Da er als Student nicht genügend verdiente, mußte seine Mutter einspringen. Sie hatte ihr Einkommen in den letzten drei Monaten anzugeben und ihren Mietvertrag vorzulegen. Hätte das sein Vater getan, hätte sie vielleicht als unverheiratete Frau kein Visum gekriegt.
Würde ich Tatiana zu dieser Vermutung gefragt haben, hätte sie vielleicht ihre Situation so beschrieben:
„Beim Konsulat wollten sie immer wissen, ob ich einen Mann hier habe. Sie haben gefragt, ob die Frau, die ich besuche, einen Sohn hat und ob der verheiratet ist. Sie unterstellen jeder Russin, die für längere Zeit ausreisen will, daß sie davon träumt, einen Deutschen zu heiraten. Hätte ich gesagt, daß ich mich in einen Studenten verliebt habe, hätten sie mir das nicht geglaubt. Denn an Liebe denkt man in Rußland in so einem Zusammenhang nicht. Man glaubt gleich, die hat sich einen dicken reichen Deutschen übers Internet geangelt und nur eines im Sinn: daß er sie schnell heiratet.“
Tatiana brauchte eine Aufenthaltserlaubnis, die sie erst bekam, als sie angab, sie wolle ein Studium zwecks Spracherwerb beginnen. Dafür hatte sie aber zu wenig Geld. Von ihrem Freund wollte sie sich nicht abhängig machen. Aber als Studentin durfte sie offiziell nicht arbeiten. Daher entstand der Druck zu einer Heirat. Denn selbst wenn eine Firma gutwillig gewesen wäre und ihr einen Job angeboten hätte, wäre es schwierig gewesen, für sie eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.
Denkbar, daß das die Streitpunkte waren: kein eigenes Geld, keine Arbeitserlaubnis, einen teuren Deutschkurs besuchen und als einziger Ausweg die Heirat. Diesem Zwang wollten beide widerstehen.
Vorstellbar auch, der Tatianas einheimischer Freund einmal – heimlich? – versucht hat, beim Standesamt eine Trauung anzumelden. Doch vor dem Zimmer für Ehen mit Auslandsbeteiligung mußte er hören, wie der Beamte mit den beiden Türken, die er hineingehen sah, schimpfte. Er dachte, der könnte ihm vorhalten, er sei einer, der diese junge attraktive Russin unter finanzieller Beteiligung aller Verwandten gekauft hat und jetzt importieren will.
Möglich, daß Tatiana nach einiger Zeit einer Eheschließung zugestimmt und versucht hat, alle nötigen Dokumente zusammenzukriegen. Wahrscheinlich bei beiden dasselbe Erstaunen wie bei mir, als ich las, daß die Originale der Ausweise, Bescheinigungen und Urkunden apostilliert werden mußten. Allerdings werden aufgrund der Vereinbarung zwischen den beiden Herkunftsländern nur die Apostillen bestimmter Behörden anerkannt. Im Falle Tatianas war es das Justizministerium.
(3. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-13 13:00
Das reichte mir damals fürs erste, um meine Phantasien in Gang zu setzen. Der Verfasser Lektor an einem Institut. Die Betroffene vermutlich russische Studentin, mit Vorgeschichte. Vorhersehbare Komplikationen, auch wenn beide in dieser Situation alleinstehend wären. Das Ende schon angedeutet.
Hätte ich die Mappe liegen lassen, wäre es ein Verlust gewesen. Hätte ich nicht zu schreiben begonnen, wäre es ein Verlust gewesen. Rechne ich in Verlusten?
Nein, ich habe in diesem Fall leichtsinnigerweise Tatiana als Figur gewonnen, auch deren Protokollanten, Ramirer. Ich wußte noch nicht, ob ich mit ihm Kontakt aufnehmen sollte. Es war ja nicht nur sein Name auf der Innenseite der Mappe vermerkt, sondern auch Adresse und Telefonnummer, mit dem Versprechen einer Belohnung bei Rückgabe. Wäre es ein Gewinn, diesen Mann in seiner Wirklichkeit kennenlernen? Würde es nicht genügen, mich nur in seine Aufzeichnungen zu vertiefen?
Immerhin: es gab ein solides Motiv – die zum Weiterstudium in den Westen gehende junge Russin. Tatiana ließ sich wohl von dem Versprechen auf ein besseres Leben in Westeuropa verlocken. Vielleicht fühlte sie sich nicht ihrer Ausbildung entsprechend entlohnt. Vielleicht war der Hauptantrieb, ihren unübersichtlichen privaten Verhältnissen zu entkommen. Die Tochter zu verlassen, diese den Eltern überantworten – welch unerträglicher Druck (oder: welch unerbittliche Verrücktheit) mußte da vorher entstanden sein?
Ich suchte nach einer Erklärung in Selbstdarstellungen von Russinnen, die sich über eine Agentur westeuropäischen Partner anboten. Doch die meisten gaben sich mit Ausfüllen von Ja-Nein-Listen zufrieden. Wenn die Gelegenheit zur Selbstbeschreibung bestand, gaben nur wenige von diese Frauen Gründe für ihre Ausreisewilligkeit an. Nur eine schrieb: „Ich beschloß, nach einem Lebenspartner im Ausland zu suchen, weil mich die Männer in meinem Land enttäuscht haben. Sie respektieren Frauen nicht, sie sind nicht romantisch und haben keine Ahnung, was Liebe ist.“
(2. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-11 13:00
„7. Dezember. Mit T. im Restaurant. Oft daran gedacht. Jetzt ergibt es sich von selbst: fragt mich, ob ich Zeit hätte.
Porzellanfarbene Haut. Feuchte, zugleich ein wenig stumpfe, mir undurchschaubar erscheinende braune Augen.
Einmal, als sie sich vorbeugt, voller Bewunderung ihren Kopf von oben betrachtet. Wäschermädel, 19. Jh., Kaiser. Einmal im Fernsehen ein alter Film. Ihre Geschichte: die einer an der Spielsucht des Mannes kaputtgegangenen Ehe. Behauptet, er habe nur so lange an seiner Tochter Interesse gehabt, solange ihm der Umgang mit ihr verboten worden war. Spieler, der auch das Geld der Freunde im Casino verspielt.
Verstehe: Casanova. Sage, mit 20 könne ein junger Mann auch den Casanova spielen. Darüber sehr gelacht.
Erstaunt, dass sie solche Verständnisschwierigkeiten hat. Geblendet von T. von Anfang an. Also ihre Sprachkenntnisse überschätzt.“
„8. Dezember. Während der Fahrt über ihr Gewicht. Sie hat sich den ganzen Vormittag geweigert, etwas zu essen. Betont, dass sie seit der Geburt einen Bauch habe. Sehe sie immer nur Orangen essen. Hat jetzt 52, 53 kg und empfindet das bei einer Größe von 1,68 als zu viel; würde lieber wieder nur 46-48 kg wiegen.
Ich duze sie, während sie mich weiter siezt. Sollte sie eigentlich siezen.“
„9. Dezember. Nach dem Unterricht noch mit T. im Institut. Heute schlecht drauf. Ließ sich auch nichts von unserem Treffen anmerken. Brauner Pulli. Heftig türkisgrüne, schwere Ostblock-Jacke und ein ebensolcher Rucksack. Wunsch: kaufe ihr hiesige Kleidung.“
„10. Dezember. Wieder nur im Auto.
Sehr beeindruckt von den in kurzer Zeit hinter sich gebrachten Studien: Jus und Kindergartenpädagogik. Jetzt ist ihre Tochter bei ihren Eltern. Bewertung der ehemaligen Schwiegereltern: sehr böse die Ex-Schwiegermutter, gut und hilfreich der Ex-Schwiegervater. Ob ich glauben soll, dass ihr Ex-Mann nicht weiß, wo sie ist und was sie macht? Angeblich glaubt er, sie sei in Moskau. Würde er wissen, dass sie im Ausland ist, könnte er ihr Schwierigkeiten machen und den Großeltern das Enkelkind wegnehmen.“
(1. Jänner 2007)
e.a.richter - 2013-06-09 13:00
Es war eine bräunliche Flügelmappe, die ich zuerst auf die Sitzbank legte und dann, als mich niemand dabei sehen konnte, in meinen Rucksack schob. Schon im Auto warf ich einen Blick hinein: ein Bündel Mailausdrucke, einige Studentenarbeiten. Dazwischen das Notizbuch eines Mannes namens Daniel Ramirer mit tagebuchartigen Aufzeichnungen.
Siegt jetzt der Wunsch, durch die Erinnerung an dieses Ereignis von mir abzulenken, diesem momentan so löchrigen Ich, das immer wieder an Reisen denken mußte, Flüge in ferne Städte denken, etwa nach Tokio, Hongkong oder Wladiwostok?
„Lieber Sascha. Aber möchte dir etwas sagen: Als ich 17 Jahre alt war, wollte ich auch nicht lernen. Ich habe meine Hausübungen nicht gemacht, ich habe oft MEINEN UNTERRICHT NICHT BESUCHT. Ich konnte ganze Tage mit Freunden im Café HERUMsitzen. Ich konnte sogar EINEN PRÜFUNGSTERMIN VERSTREICHEN LASSEN, WEIL MICH DAS NICHT INTERESSIERTE. So war ES in der Schule, und SO WAR ES AUCH zwei Jahre LANG AN der Universität. Aber einmal am Morgen BIN ich VON SELBST DRAUFGEKOMMEN, dass ich EIN unrichtiges Leben führe. Ich habe ERKANNT, dass mein Leben nur für mich wichtig ist, dass meine JUGEND verschleudert wird, die Jahre VERgehen und ich sie nie WIEDER zurückholen kann. Ich habe eine Entscheidung GETROFFEN: Ich werde mich UM 180 GRAD DREHEN! Ich WERDE fleissig lernen, öfter DIE Bibliothek besuchen usw. Ich habe sogar NACHHILFESTUNDEN GENOMMEN, weil ich GEWUSST habe, dass ich viele Löcher in meinem Kopf habe. MIR FIEL ALLES SEHR SCHWER, weil so viel Zeit verloren worden WAR. Aber ich HABE mich sehr bemüht. Mein Leben hat EINEN anderen Sinn BEKOMMEN Alle meine Freunde HABEN mich mehr geachtet. Und ich mich natürlich SELBST auch. Mehrere FreundSCHAFTEN wurden BEENDET, viele andere Interessen wurden FALLEN GELASSEN. Jetzt bin ich in einem anderen Land UND habe EIN sehr interessantes Leben in dieser schönen Stadt, WÄHREND sie NOCH IMMER dort sitzen. Zieh DEINE EIGENEN SCHLÜSSE DARAUS! Ich wohne hier in einem Studentenheim GLEICH hinter der Universität und schreibe meinen Eltern JEDEN TAG ein Mail. Ich denke JEDE SEKUNDE an meine süße Julia!“
Wahrscheinlich hatte Ramirer diesen Brief mit Großbuchstaben korrigiert, mit einem grünen Filzstift. Zwischen den Blättern auf zwei Fotos eine junge Frau, anscheinend eine Tatiana. Das zweite nur eine Ausschnittsvergrößerung. Das erste zeigte eine Gruppe von 7 Studentinnen und 5 Studenten in einem Vorlesungsraum. Nur die Frauen lächelten. Die jungen Männer schauten nachdenklich, zwei sogar mit offenem Mund in die Kamera. Einer lehnte schräg an der Wand und stützte sein Kinn auf die rechte Hand; wahrscheinlich ein Araber. Tatiana saß als einzige, zwischen zwei Tischen, auf denen Wörterbücher und Notizblöcke lagen. Hinter ihr zwei junge Frauen, die eine südamerikanisch und die andere türkisch aussehend, die Türkin mit blondierten Haaren.
Auf der etwas unscharfen Vergrößerung Tatiana selbstbewußt, mit einem verhaltenen, leicht spöttischen Lächeln. Das hellbraune Haar so hochgesteckt, daß einige Strähnen über dem linken Ohr hinunterhingen; und Fransen über der Stirn. Die Lippen in einem zarten gleichmäßigen Rosa. Hochgeschlossene Jacke mit einem Leopardenmuster, der Reißverschluß bis zwischen die Brüste geschoben. Darunter schien sie kein T-Shirt anzuhaben. Die Hände über der Taille verschränkt. Auf dem Ringfinger der rechten Hand ein rosa Ring.
(31. Dezember 2006)
e.a.richter - 2013-06-07 13:00
Man sitzt beim Essen. Man macht völlig unbedachte Bewegungen, automatische, nicht nur, wenn man ißt. Die Zeit läuft ab, alles ereignet sich, nur wenn man Zeuge ist, ist es glaubwürdig.
Man sitzt, man schaut auf die Leute, diejenigen, die hereinkommen, auf jene, die hinausgehen. Fremde, die kommen und gehen. Dazwischen essen sie, hastig, nebenbei, im Gespräch, mit einem abwesenden Gesicht. Man denkt noch nicht daran, daß man unter dem Tisch etwas finden wird, vielleicht einen hinuntergefallenen Schal, eine zertretene Rose, eine halbleere Streichholzschachtel.
Doch auf einmal erscheint etwas im Augenwinkel, man hat das nicht erwartet. Man bückt sich, nimmt es, ohne zu denken. Man schaut sich verstohlen um, ob einen jemand dabei ertappt haben könnte, man ist beunruhigt. Neugier, die Sucht nach dem Unbekannten, die Erregung über das noch zu Entdeckende überwiegen.
Hätte ich es liegen lassen sollen? Wäre es richtig gewesen, den Fund dem Restaurantpersonal übergeben? Würde ich Hinweise auf den Besitzer oder die Besitzerin bemerken und dann Kontakt aufnehmen?
(29.12.2006)
e.a.richter - 2013-06-05 13:00
Zu „Fliege. Roman eines Augenblicks“ (Edition Korrespondenzen, 2010). Mehr hier,
hier und
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hierher. Und
hierher.
e.a.richter - 2013-05-26 13:00